VH-Blog: In eigener Sache

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Die überraschenden Worte von C.S. Lewis über das Fegefeuer

LONDON – C.S. Lewis gilt weithin als einer der besten christlichen Apologeten des 20. Jahrhunderts. Auch wenn ihn sein katholischer Freund J.R.R. Tolkien zum Christentum bekehrte, entschied sich Lewis, der protestantischen Church of England beizutreten, der er bis zu seinem Tod angehörte.

Was folgende Tatsache etwas seltsam macht: Er glaubte an das Fegefeuer.

Die Lehre vom Fegefeuer ist der Glaube, dass Christen nach ihrem Tod eine gewisse Zeit der Läuterung und Reinigung durch Gnade erfahren, bevor sie in den Himmel kommen. Die Kirche lehrt auch, dass Christen auf Erden für die Toten im Fegefeuer beten können und so deren Eintritt in den Himmel beschleunigen. Diese Glaubensgrundsätze des Katholizismus wurde von Protestanten im 16. Jahrhundert verworfen.

In seinem Buch „Du fragst mich, wie ich bete: Briefe an Malcolm“, das posthum veröffentlicht wurde, gibt Lewis einem fiktionalen Freund Ratschläge zum geistlichen Leben, und im Brief 20 finden sich die überraschenden Worte über das Fegefeuer.

„Natürlich bete ich für die Toten“, schreibt Lewis. „Die Handlung ist so spontan, so geradezu unvermeidbar, dass nur der zwingendste theologische Grund dagegen mich davon abhalten könnte“.

Als ihn sein fiktionaler Freund herausfordert, dass er nur die katholische Lehre vom Fegefeuer vertrete, antwortet er klar:

„Nun, ich denke das tue ich. […] Ich glaube an das Fegefeuer.“

Lewis erklärt weiter, dass aus seiner Sicht die katholische Lehre vom Fegefeuer vom 16. Jahrhundert verfälscht wurde, und dass sowohl frühere Versionen (etwa Dantes Vision des Fegefeuers) und moderne Versionen (etwa des seligen John Henry Newman) greifbarer sind.

Warum also für jemanden im Fegefeuer gebetet werden kann und sollte, erklärte 2007 noch einmal Papst Benedikt in der Enzyklika Spe Salviso:

Wenn das „Fegefeuer“ einfach das Reingebranntwerden in der Begegnung mit dem richtenden und rettenden Herrn ist, wie kann dann ein Dritter einwirken, selbst wenn er dem anderen noch so nahesteht? Bei solchem Fragen sollten wir uns klarmachen, dass kein Mensch eine geschlossene Monade ist. Unsere Existenzen greifen ineinander, sind durch vielfältige Interaktionen miteinander verbunden. Keiner lebt allein. Keiner sündigt allein. Keiner wird allein gerettet. In mein Leben reicht immerfort das Leben anderer hinein: in dem, was ich denke, rede, tue, wirke. Und umgekehrt reicht mein Leben in dasjenige anderer hinein: im Bösen wie im Guten. So ist meine Bitte für den anderen nichts ihm Fremdes, nichts Äußerliches, auch nach dem Tode nicht.

„Unsere Seelen verlangen das Fegefeuer, nicht wahr?“ schreibt Lewis weiter in seiner Verteidigung. Es wäre kein sehr liebender Gott, der uns in den Himmel geleitet, trotz unseres Hangs zur Sünde.

„Sollten wir nicht antworten, ‚Mit Verlaub, Herr, und wenn Sie nicht widersprechen, würde ich lieber erst gereinigt werden.‘ ‚Du weißt, es kann wehtun‘ – ‚Gleichwohl, Herr“.

Mit Blick auf die Frage, ob das Fegefeuer weh tut, gibt er eine sehr Lewis-typische Antwort – eine mit gesundem Menschenverstand: „Ich nehme an, dass der Prozess der Läuterung normalerweise weh tut. Teilweise aufgrund der Tradition; teilweise weil das meiste echte Gute, das mir im Leben widerfahren ist, auch weh getan hat. Aber ich glaube nicht, dass Leiden der Zweck des Fegefeuers ist. […] Die Behandlung wird die nötige sein, ob sie nun ein wenig schmerzt oder viel.“

Wer die anderen Bücher von C.S. Lewis liest, wird einer Version des Fegefeuers auch in seinem klassischen Werk „Die Große Scheidung“ begegnen.

Veröffentlicht exklusiv für CNA Deutsch mit freundlicher Genehmigung von www.ChurchPOP.com – eine Weiterverwertung dieses Artikels an Dritte ist vom Copyright-Halter nicht gestattet. Erste Fassung veröffentlicht am 8. Mai 2017. (CNA Deutsch)

TV-Tipp: Sondersendung bei EWTN.TV zum „heißen Herbst“ im Jahre 1867

KÖLN – Es war ein „heißer Herbst“ ganz anderer Art: Vor 150 Jahren, im Herbst 1867, fiel Giuseppe Garibaldi mit seinen Freischaren in den Kirchenstaat ein.

In den römischen Provinzen kam es zu blutigen Gefechten; in der Ewigen Stadt versuchte man durch Attentate einen Aufstand zu entfesseln. Am 3. November zog eine päpstliche Streitmacht, unterstützt von feinem französischen Expeditionskorps, Garibaldi entgegen. 25 Kilometer vor den Toren Roms kam es zur Schlacht von Mentana. Zur Verblüffung der damalgen Weltöffentlichkeit und der zahlenmäßigen Überlegenheit der Freischaren verlief diese anders als erwartet. Es war die letzte siegreiche militärische Auseinandersetzung, die im Namen der Päpste geführt wurde.

Beim katholischen Fernsehsender EWTN.TV wird mit dem bekannten Historiker und Vatikanisten Ulrich Nersinger diese spannende Geschichte in einer Sondersendung erzählt.

Der erste Teil der Sendung wird auf EWTN.TV u.a. wiederholt am:

Dienstag, den 31.X., um 15.30 Uhr

Mittwoch, den 1.XI., um 21.00 Uhr

Donnerstag, den 2.XI., um 12.30 Uhr

Weitere Sendedaten finden Sie auf www.ewtn.de unter der Rubrik „Programm“. (CNA Deutsch

Zum ersten Mal online zu sehen: Mittelalterliche Handschriften aus bayerischem Kloster

MÜNCHEN – Eine halbes Jahrtausend alte Schriften, von Hand gefertigt, können nun zum ersten Mal online betrachtet und gelesen werden. Die ersten sieben Handschriften des St. Birgitta-Klosters im oberbayerischen Altomünster sind digitalisiert und ab sofort für Forscher und alle Interessierten zugänglich.

Bei den Büchern handelt es sich um sechs lateinische Antiphonarien – Bücher für das Stundengebet – sowie Sammlungen liturgischer Gesänge aus dem späten 15. und dem frühen 16. Jahrhundert; außerdem eine deutschsprachige Handschrift mit der Ordensregel der Birgittinnen aus dem Jahr 1501.

Die Antiphonarien zählen zu den ältesten Handschriften im Buchbestand von Altomünster und wurden bereits in dem Forschungsprojekt „Schriftlichkeit in süddeutschen Frauenklöstern“ der Bayerischen Staatsbibliothek, des Bayerischen Hauptstaatsarchivs und der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster wissenschaftlich erfasst.

Alle sieben Werke zeichnen sich aufgrund ihrer Ausgestaltung und Buchmalerei innerhalb des Buchbestandes besonders aus.

Die Digitalisierung der Bücher erfolgte in enger Zusammenarbeit mit dem Münchener Digitalisierungszentrum der Bayerischen Staatsbibliothek. Bei dem Verfahren wurden die Handschriften seitenweise in Handauflage mit Hochleistungsscannern eingescannt. Die Online-Veröffentlichung und die Langzeitarchivierung der Daten übernimmt die Bayerische Staatsbibliothek. Die Originale der Handschriften werden in der Diözesanbibliothek des Erzbistums in München aufbewahrt.

Bis zum Ende des kommenden Jahres werden alle Handschriften und Druckwerke der Klosterbibliothek bis zum Erscheinungsjahr 1803, dem Jahr der Säkularisation, vollständig zugänglich gemacht sein.

Die Digitalisierung ist auch eine Folge des Kloster-Sterbens im deutschsprachigen Raum: Das Erzbistum München und Freising hat im Januar 2017 das St. Birgitta-Kloster nach dessen von den Brigittinnen übernommen. Derzeit entwickelt das Erzbistum in einem Prozess Ideen für die zukünftige Nutzung des Geäudes im Landkreis Dachau.

Die digitalisierten Handschriften stehen auf der Website der Bayerischen Staatsbibliothek unter www.digitale-sammlungen.de zur Verfügung. (CNA Deutsch)

„Dan Brown kann mich nicht zitieren, um Gott zu leugnen“, erklärt Wissenschaftler

Der Bestseller-Autor habe offenbar weder die Wissenschaft verstanden noch die Religion, kritisiert ausgerechnet der Professor, dessen Doppelgänger der Held des neuesten Brown-Buchs ist.

Jeremy England, Doktor der Physik an der Stanford University, arbeitet als Professor am Massachusetts Institute of Technology (MIT), eine der führenden Universitäten der Welt. Dan Brown schuf den Charakter Edmond Kirsch für sein Buch „Origin“ und benutzte dafür England und seine Forschungen zum Ursprung des Lebens als Grundlage.

Anlässlich der Vorstellung von „Origin“ bei der Frankfurter Buchmesse versicherte Dan Brown vor Kurzem in einer Erklärung an die Presse, dass er sich durch die Frage, „ob Gott die Wissenschaft überleben werde“ inspirieren ließ.

Im selben Gespräch gab Brown selbst die Antwort: Nein. Und er fragte sich weiter: „Sind wir heute so naiv zu glauben, dass die Götter der Gegenwart überleben werden und dass es sie auch in hundert Jahren noch geben wird?“

Offenbar meinte der Bestseller-Autor das wirklich ernst, denn er fuhr fort, dass „Gott durch eine Art globales Bewusstsein, das wir wahrnehmen, und das sich zu unserer Gottheit entwickeln wird, ersetzt werden“ wird.

Professor England, der sich selbst als orthodoxen Juden betrachtet, sagte in einem Artikel, der von der amerikanischen Tageszeitung Wall Street Journal veröffentlicht wurde, dass „Dan Brown mich nicht zitieren kann, um Gott zu leugnen.“

Der Wissenschaftler bemerkte erst kürzlich, dass Brown seinen „Doppelgänger“ ins Buch aufgenommen hatte und auch wenn England der Meinung ist, dass „die Beschreibung, die Brown von ihm mache, schmeichelhaft ist, so irrt der Schriftsteller doch, was die Bedeutung meiner Forschung angeht.“

„Eine seiner Figuren erklärt, dass mein literarischer Doppelgänger das ‚zugrundeliegende physische Prinzip identifiziert haben könnte, welches den Ursprung und die Evolution des Lebens antreibe.‘ Wenn die Theorie des fiktiven Jeremy England korrekt ist, suggeriert das Buch, wäre das eine transzendentale Widerlegung aller anderen Schöpfungsgeschichten. Alle Religionen könnten obsolet werden“, erläuterte England.

Für den Wissenschaftler des MIT „wäre es ein Leichtes, die Theorien meines fiktiven Ich aufgrund der kurzen Beschreibung von Herrn Brown zu kritisieren, aber es wäre auch ungerecht.“

„Meine echte Forschung darüber, wie lebens-ähnliche Verhaltensweisen in unbelebter Materie entstehen ist offen zugänglich, während die Arbeit der Figur Dan Browns nur vage beschrieben wird.“

Im Buch von Dan Brown „gibt es keine wirkliche Wissenschaft, über die zu diskutieren wäre“, betonte er.

„Meine wirkliche Sorge hat mit der Haltung meines Doppelgängers im Buch zu tun“ präzisierte er, denn er wird dargestellt als „futuristischer Milliardär, dessen Mission es ist, zu beweisen, dass die Wissenschaft Gott irrelevant gemacht hat.“

Der amerikanische Wissenschaftler erklärte, dass „die Sprache der Physik äußerst nützlich sein kann, um über die Welt zu sprechen, aber niemals kann sie alles ansprechen, was über das menschliche Leben gesagt werden muss.“

England führte als Beispiel an, dass „Gleichungen auf elegante Weise erklären, wie sich ein Flugzeug in der Luft halten kann, aber sie können das Staunen eines Menschen, der über den Wolken fliegt, nicht vermitteln.“

„Ich bin enttäuscht von meinem fiktiven Selbst, weil es so vergnügt desinteressiert ist an dem, was jenseits der engen Grenzen des technischen Bereichs liegt“, sagte er.

„Ich bin Wissenschaftler, aber ich studiere auch die hebräische Bibel und lebe nach ihr. Für mich ist die Vorstellung, dass die Physik beweisen könne, dass der Gott Abrahams nicht der Schöpfer und Herrscher der Welt ist, ein schwerwiegendes Missverständnis sowohl der wissenschaftlichen Methode als auch der Funktion des biblischen Textes.“

„Die Wissenschaft ist ein Annäherung an die allgemeine Erfahrung. Sie behandelt das, was objektiv messbar ist, indem sie Modelle erfindet, die die teilweise Vorhersehbarkeit der Welt zusammenfassen“, erklärte er.

„Im Gegensatz dazu sagt der biblische Gott im brennenden Dornbusch zu Mose: ‚Ich bin, der Ich-bin-da‘. Das bezieht sich auf die Ungewissheit, welche die Zukunft für alle darstellt. Keine Vorhersage kann die Frage, was als nächstes passieren wird, vollständig beantworten.“

„Die Menschen werden immer eine Entscheidung darüber treffen müssen, wie sie sich zur unbekannte Zukunft verhalten. Die Begegnungen Gottes mit den jüdischen Propheten werden oft mit Begriffen des Bundes beschrieben, teils auch um hervorzuheben, dass das Erkennen der Hand Gottes, der wirkt, mit einer bewussten Entscheidung beginnt, die Welt auf eine gewisse Weise zu sehen.“

England betonte, dass es „kein wissenschaftliches Argument gebe“ durch das man darauf vertrauen könne, „dass Gott durch die Ereignisse der Welt spricht“, aber „die Wissenschaft kann dies auch auf keinerlei Weise widerlegen, denn das liegt außerhalb der Reichweite ihrer Forschung.“

Für den amerikanischen Wissenschaftler ist „die wichtigste Frage“, ob „wir weiterhin über Gott lernen müssen? Im Licht all dessen, was ich weiß, bin ich mir meinerseits sicher, dass es so ist.“ (CNA Deutsch)

Mit „Fake News“ gegen den Papst?

Auch Kardinal Gerhard Müller geriet jetzt in den Zielpunkt einer Desinformationskampagne, kommentiert Guido Horst.

Knapp vierzig Grad im Schatten. Draußen, auf dem Petersplatz, scheinen sich die Eisenstangen der Absperrungen in der Sonnenglut zu verbiegen, drinnen, nur einen Steinwurf von den Kolonnaden entfernt, im Palazzo Nummer 1 an der Piazza della Città Leonina, empfängt Kardinal Gerhard Müller ganz leger: Sommerhose, kariertes kurzes Hemd. Auch in seiner Wohnung, die einst lange Jahre das Domizil von Kardinal Joseph Ratzinger war, steigen die Temperaturen beträchtlich an. Der Grund für die etwas unkonventionelle Begegnung ist eine der vielen „fake news“, wie sie in Rom zurzeit nur so die Runde machen. Doch diesmal betraf es Müller direkt, den Papst Franziskus erst vor wenigen Tagen aus dem Amt des Glaubenspräfekten entlassen hat. Der Sekretär des Kardinals. Don Slawek, ist im Ausland, Müller deshalb ohne Zugang zum Internet – und so las er erst jetzt, was in den Stunden zuvor rund um die ganze Welt gegangen war.

Das letzte Gespräch zwischen Papst und Müller sei in Wirklichkeit so verlaufen, hatte Maike Hickson in ihrem Online-Dienst „One Peter Five“ behauptet, und der italienische Journalist Marco Tosatti hatte das auf seinem Blog „Stilum curiae“ auf Italienisch sofort weiterverbreitet. Also: Am 30. Juni in den Apostolischen Palast berufen, habe Müller, mit den zur Entscheidung anstehenden Akten der Glaubenskongregation bewaffnet, eine relativ kurze Unterredung mit Franziskus gehabt. Der Papst habe dem Kardinal nur fünf Fragen stellen wollen, so „One Peter Fice“ und „Stilum curiae“: Sind Sie für oder gegen den Frauendiakonat, habe Franziskus gefragt. Ich bin dagegen, so Müller. Und weiter: Sind Sie für oder gegen die Aufhebung des Zölibat? Ich bin natürlich dagegen, so Müller. Sind sie für oder gegen weibliche Priester. – Ich bin entschieden dagegen. Wollen Sie „Amoris laetitia“ verteidigen? Ja, so die Antwort von Müller, insofern es mir möglich ist. Es gibt da noch Zweideutigkeiten. Und dann die letzte Frage des Papstes: Wollen Sie Ihren Protest gegen die Kündigung Ihrer drei Mitarbeiter zurückziehen? Heiliger Vater, habe der Kardinal entgegnet, das waren gute Leute ohne Makel, die ich vermisse. Es war nicht korrekt, sie über meinen Kopf hinweg zu entlassen, und das kurz vor Weihnachten, so dass sie ihre Büros bis zum 28. Dezember räumen mussten.

Dann, so schreiben Hickson und Tosatti, habe der Papst dem Kardinal nur noch mitgeteilt, dass er sein Mandat als Präfekt der Glaubenskongregation nicht verlängern werde, und sei wort- und grußlos gegangen. Als Quelle für diese Version des letzten Gesprächs zwischen Papst und Müller gab Hickson eine „vertrauenswürdige deutsche Quelle“ an, die das anonym berichtet habe, nachdem sie kurz nach der Entlassung Müllers mit diesem an einem Essen des Kardinals mit seinem Abiturjahrgang in Mainz teilgenommen und entsprechende Bemerkungen aufgeschnappt habe. Diese anonyme Quelle ist der Redaktion dieser Zeitung bekannt. In Rom ist sie nur als dubiose Figur bekannt, deren sprudelnde Phantasie keine Grenzen kennt – alles andere also als vertrauenswürdig.

Als jetzt Kardinal Müller am Mittwochmorgen den Ausdruck der beiden – fast gleichlautenden – Berichte las, traute er seinen Augen nicht. „Das stimmt nicht“, so Müller, das Gespräch sei ganz anders gelaufen. Auch der Schluss des vermeintlichen Protokolls der „deutschen Quelle“ sei falsch. Bei Hickson und Tosatti hieß es dort, der Präfekt sei nach dem Weggang des Papstes noch ein wenig sitzengeblieben, in der Erwartung, das Franziskus etwas holen würde, ein kleines Geschenk oder Ähnliches, um den Kardinal zu verabschieden oder sich für seine Dienste zu bedanken. Bis ihm dann der Präfekt des Päpstlichen Haues, Erzbischof Georg Gänswein, mitgeteilt habe, dass die Audienz beendet sei. Kardinal Müller staunte jetzt nicht schlecht, als er nun diese frei erfundene Darstellung lesen musste. Zumal er selber über den Verlauf der besagten Audienz berichtet hatte, der Papst sei mit ihm tatsächlich Akten der Glaubenskongregation durchgegangen und habe ihm erst beim Hinausgehen mitgeteilt, dass er seine Amtszeit als Glaubenspräfekt nicht verlängern werde.

Man könnte diese Blüten der Desinformation, wie sie Kardinal Müller überrascht zur Kenntnis nehmen musste, in dem Fach „fake news“ ablegen und es mit einer knappen Richtigstellung oder einem Dementi bewenden lassen. Aber sie sind symptomatisch für eine Zeit, in der ein Pontifikat für Unruhe sorgt und mancher sich bemüßigt fühlt, mit Fehlinformationen und freien Erfindungen diese Unruhe noch zu steigern – aus den unterschiedlichsten Motiven heraus. Der Franziskus in den Mund gelegte Satz: „Ich werde als der Papst in die Geschichte eingehen, der die Kirche gespalten hat“, schaffte es bis in das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“. Und schon kreist in deutschen Landen das Gerücht, der päpstliche Autor von „Amoris laetitia“ wolle den deutschen Verein „Donum vitae“ mit dem Segen der Deutschen Bischofskonferenz in die Schwangerenberatung der Kirche integrieren – trotz der Ausstellung des einst von Rom nicht gewollten Beratungsscheins.

Solche Gerüchte – das ist eines der möglichen Motive – sollen die romtreuen Katholiken treffen, die auf dem Boden der traditionellen Lehre stehen und in dem Lehramt von Johannes Paul II. und Benedikt XVI. ein Vermächtnis für die Zukunft sehen. Sie, so die Absicht der Gerüchtestreuer, sollen jetzt ganz verdattert dastehen angesichts eines lateinamerikanischen Jesuiten-Papstes, der Hand anlegt an die Alleinstellungsmerkmale des Katholischen. Die Agenda, die die „anonyme deutsche Quelle“ implizit aus den vermeintlichen Fragen des Papstes an Kardinal Müller ablesen lassen will, ist immerhin ganz beachtlich: Einführung des Frauendiakonats, Abschaffung des Zölibats, Weihe von Frauen zum Priesteramt.

Somit steigt die Verunsicherung, zumal es tatsächlich Initiativen von Papst Franziskus gibt, die selbst bei ganz gemäßigten Kurienprälaten eher ein Kopfschütteln als begeisterte Zustimmung hervorrufen. Am Sonntag ist das dritte Interview erschienen, das Franziskus mittlerweile dem Laizisten-Papst Eugenio Scalfari gegeben hat, wiederum erschienen in der links-liberalen „La Repubblica“. Und wieder hat der 93-jährige Gründer dieser Zeitung darauf verzichtet, bei dem Gespräch in Santa Marta ein Aufnahmegerät mitlaufen zu lassen.

Das Ergebnis ist eine krude Mischung von eigenen Gedanken Scalfaris und Äußerungen von Franziskus zum G20-Gipfel in Hamburg, zu internationalen Allianzen gegen Flüchtlinge und unheilvollen Beziehungen zwischen Putin und Trump, Russland und Syrien oder Nordkorea und China – mit dem vatikanischen Staatssekretariat dürften die Einschätzungen des Papstes wohl kaum abgesprochen gewesen sein. Für Scalfari habe der Papst Zeit, nicht aber für die vier Kardinäle, die wegen ihres Briefs mit den „dubia“ um eine Audienz beim Papst nachgesucht hatten – so der Kommentar in Kurienkreisen. Dass Franziskus etwa zur gleichen Zeit den soeben zum Kardinal erhobenen Weihbischof Gregorio Rosa Chavez aus El Salvador zu seinem Vermittler zwischen Nord- und Südkorea ernannt hat, obwohl dieser weder Koreanisch spricht noch über besondere Kontakte in dieser Region verfügt, machte ebenfalls stutzig. Mancher fragt sich, nach welchen Kriterien Franziskus – der auch in diesem Sommer auf eine Ferienzeit verzichtet – im Gästehaus Santa Marta agiert. Da gießen solche Falschmeldungen wie die von „One Peter Five“ und „Stilum curiae“ zu den vermeintlichen fünf Fragen von Franziskus an Kardinal Müller nur Öl ins Feuer. Die Absicht scheint zu sein, die Verunsicherung rund um die Person des Papstes weiter zu steigern. Der Sache dient das nicht.

Guido Horst ist Chefkorrespondent der Zeitung „Die Tagespost“ in Rom. Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung. (CNA Deutsch)

Buchtipp: Der erste Stellvertreter

Der US-amerikanische Anthropologie-Professor David Kertzer tritt mit einer klaren These an. Pius XI., Papst von 1922 bis 1939, hat aus seiner Sicht dem italienischen Faschismus den Weg geebnet und sei über weite Strecken ein Verbündeter Benito Mussolinis gewesen. In seinem Werk „Der erste Stellvertreter. Papst Pius XI. und der geheime Pakt mit dem Faschismus“ vertieft Kertzer diese Einschätzung auf 600 Seiten, ein Drittel davon sind Fußnoten.

Mit sicherem Blick fürs stimmige Detail zeichnet der Autor den Weg der beiden so ungleichen Männer nach: Achille Ratti, der aufbrausende Papst, der am liebsten Bücher und Berge hat, und der nach Macht, Frauen und sich selbst gierende Aufsteiger Mussolini. Beide kamen im Jahr 1922 an die Macht, beide waren politisch aufeinander angewiesen. Der Papst brauchte ein Stück Land rund um den Petersdom, Souveränität und die Zusicherung freier Kultausübung in Italien, und Mussolini brauchte politische Anerkennung, die er international ausschlachten konnte. Folgerichtig kam es zum Abschluss der Lateran-Verträge 1929. Kertzer zeichnet Pius als ein Kirchenoberhaupt mit deutlichen Sympathien für Mussolinis autoritären Führungsstil, beide hätten mit Demokratie nichts anfangen können und sich in gemeinsamer Feindschaft zu Juden und Sozialisten vereint fühlen dürfen.

Es ist ein lebendig geschriebenes und mit viel Stoff unterfüttertes Zeitporträt, das der Autor hier ausbreitet. Zugleich wird man den Eindruck nicht los, der Autor legt sich freiwillig Scheuklappen an: er lässt manches weg, was seine zentrale These ins Wanken bringen könnte, und bringt anderes, von dem man sich fragt, was es hier zu suchen hat. Bereitwillig lässt sich Kertzer etwa von einer besonders bunten Quellenkategorie umgarnen: von Spitzelberichten. Mussolini unterhielt ein dichtes Netzwerk an Spionen, die auch rund um den Vatikan horchten. Durchgängig zitiert der Autor aus diesen faschistischen Spitzelberichten, die Aufgeschnapptes in wild-gehässigem Tonfall wiedergeben. Dass es unzuverlässige Quellen sind, sagt Kertzer selbst, aber nur in den Fußnoten. Indessen erfährt der verdutzte Leser über homosexuelle Neigungen einzelner Kirchenmänner der 1920er Jahre. Solche Episoden mögen sich süffig lesen, bloß hält sich ihr Erkenntniswert mit Blick auf das Anliegen der Arbeit in Grenzen.

Kertzers Werk ist ein hübscher Mosaikstein der Forschung zum schwierigen Verhältnis zwischen katholischer Kirche und den europäischen Diktaturen des 20. Jahrhunderts. Große neue Erkenntnisse bringt es nicht, dafür viele Anekdoten, plastisch arrangierte Szenen, sogar Dialoge. Dafür gab es den Pulitzer-Preis, die berühmteste journalistische Auszeichnung in den USA.

Zum Mitschreiben: Der erste Stellvertreter. Papst Pius XI. und der geheime Pakt mit dem Faschismus, David I. Kertzer Verlag: Theiss (Rezension: Gudrun Sailer), Preis: 38 Euro. (rv)

Qumran: Eine Ziege, Manuskripte und ständig neue Debatten

qumran_rollendetailImmer noch Überraschungen, neue Fragmente, neue Debatten: Auch siebzig Jahre nach den ersten Funden erregen die Manuskripte von Qumran immer neues Interesse. Es war eine Ziege gewesen, mit der 1947 in der Judäischen Wüste alles angefangen hatte; auf der Suche nach ihr machte ein Hirte in einer Berghöhle nicht weit von Jericho die spektakulärste archäologische Entdeckung des 20. Jahrhunderts. Er fand Schriftrollen aus dem Umfeld der Bibel. Ausgrabungen förderten bis 1956 in elf Höhlen die Überreste von 900 hebräischen Rollen aus dem dritten und zweiten Jahrhundert vor Christus zutage – darunter die ältesten Manuskripte, die wir von der Hebräischen Bibel überhaupt haben.

„Die überwältigende Mehrheit der Qumran-Texte ist mittlerweile bekannt und publiziert“, erklärt Professor Corrado Martone von der Uni Turin, der in diesen Tagen einen internationalen Kongress zum Stand der Qumran-Forschung in Bologna mitveranstaltet hat. „Unser Bild dieser Zeit hat sich durch die Funde völlig verändert: Wir haben jetzt Quellen aus erster Hand über das Judentum in der Zeit des Zweiten Tempels, also aus der in vielerlei Hinsicht lebhaftesten Epoche jüdischer Kultur, aus der dann das Christentum genau wie das heutige Judentum hervorgegangen sind. Das heißt, wir stehen hier an den Quellen unserer westlichen Kultur. Das Gros der – vor allem biblischen – Texte, die in Qumran aufgetaucht sind, bestätigt das, was viele Jahrhunderte später zum sogenannten masoretischen Text geworden ist, also zu dem Text, der auch heute noch in den Synagogen gelesen wird, zum Text der Hebräischen Bibel. Aber wir können durch die Funde auch die Entwicklung nachvollziehen, die zu dieser Konkretisierung des Textes geführt hat. Es ist also wirklich so, als könnten wir da die Entstehung des Bibeltextes mitansehen!“

Vieles ist noch unklar an den Qumran-Funden. Etwa die Frage, ob sie wirklich aus der Essener-Gemeinschaft hervorgegangen sind, die hier in der Wüste lebte und die im ersten Jahrhundert nach Christus von den Römern vernichtet wurde. Unklar ist auch, ob Johannes der Täufer oder gar Jesus mit dieser Essener-Gruppe etwas zu tun hatten – und wenn ja, was genau. Die Unklarheiten haben im Lauf der Jahrzehnte immer wieder Spekulationen befeuert, bis hin zu der halsbrecherischen These, der Vatikan versuche eine unbequeme Wahrheit über Qumran zu unterdrücken. Die Wirklichkeit ist prosaischer: Experten, die sich über teilweise winzige Fetzen beugen und denen oft nur eine lückenhafte Entzifferung gelingt.

Pentateuch-Rolle erst vor drei Jahren in einer Uni-Bibliothek wieder aufgetaucht

Der Forscher Mauro Perani von der Uni Bologna hat sich auf dem Kongress in den letzten Tagen vor allem mit der Rolle des vollständigen Pentateuch beschäftigt, also mit den fünf Büchern des Mose, die am Beginn der Hebräischen Bibel stehen. Die 36 Meter lange Rolle aus dem elften nachchristlichen Jahrhundert wurde allerdings nicht in Qumran entdeckt, sondern vor nur drei Jahren von ihm selbst in der Universitätsbibliothek von Bologna. Sie ist offenbar von Dominikanern im 13. Jahrhundert von Toulouse nach Bologna gebracht worden, stand dort im Mittelpunkt zahlreicher Studien, war aber nach den napoleonischen Wirren bis vor kurzem verlorengegangen.

„Diese Rolle bildete, wie alle Studien der letzten Jahre gezeigt haben, eine Säule, eine Art Polarstern, einen Leuchtturm der wahren Bibel des Esra. Sie wurde also dem Schreiber Esra zugeschrieben, offenbar um damit auszudrücken, dass sie in uralte Zeiten zurückreichte, und war ein Bezugspunkt nicht nur für das religiöse, sondern auch für das politische Leben. Bei Debatten über politische und religiöse Fragen bezogen sich alle immer auf diese wahre Bibel des Esra, die sich jetzt in der Uni-Bibliothek von Bologna befindet.“

Esra war um 400 vor Christus der Verfasser der beiden alttestamentlichen Bücher Esra und Nehemia, die im Alten Testament zum Korpus der Geschichtswerke gehören. Er berichtet über den Neuanfang des Volkes Israel in Jerusalem und Juda nach der Rückkehr aus dem Babylonischen Exil. Das achte Kapitel des Buches Nehemia schildert, wie „der Priester Esra“ dem Volk „das Buch mit dem Gesetz des Mose“ vorliest, zu dessen tiefer Betroffenheit.

Die Qumran-Rollen sind im Jerusalemer Heilig-Land-Museum ausgestellt, in einem eigenen „Schrein des Buches“. Für die in Bologna wiederaufgetauchte Pentateuch-Rolle soll jetzt ein eigenes Museum an der Uni Bologna entstehen, wie Professor Alberto Melloni erklärt. „Angesichts dieser Wiederentdeckung wollen wir mehr als nur eine Ausstellung rund um die Schriftrolle bieten – auch weil Bologna der Ort der ersten “Editio princeps” der Hebräischen Bibel war und weil in Bologna die erste „Jerusalemer Bibel“ auf Italienisch herausgegeben wurde. Dieser große rote Kasten – viele Katholiken in Italien werden sich an ihn erinnern – war so etwas wie eine Heimkehr der Heiligen Schrift in die katholische Tradition. Wir wollen ein Museum, wo die Bibel von Bologna nicht zum Museumsstück wird – das wäre eine Beleidigung, sie so zu behandeln! –, sondern wo sie Menschen, die immer weniger Umgang mit der Bibel haben, eine Möglichkeit zum Kennenlernen der Heiligen Schrift gibt.“ (rv)

Buchtipp: Die Stadt Rom zur Zeit der Reformation

buch-stadt-rom-zur-reformationEinen besonders einnehmenden kleinen Band zur Stadtgeschichte Roms legt das Verlagshaus Herder neu auf. Das Besondere: es handelt sich um ein bereits 100 Jahre altes Buch, das versucht, in Wort und Bild das Rom der Reformation einzufangen. Eine doppelte historische Brechung also. Die aber ist umso reizvoller, als das Werk aus der Feder des betont katholischen Kirchenhistorikers Ludwig von Pastor (1854 – 1928) stammt, der sein wissenschaftliches Lebenswerk der Verteidigung der „una sancta“ in bester Tradition des ausgehenden 19. Jahrhunderts widmete.

Von Pastor unternahm vor 100 Jahren ausgedehnte Stadtspaziergänge durch ein rasant sich wandelndes Rom. Denn mit dem Ende des Kirchenstaates 1870 hörte Rom auf, bloß das Rom der Päpste zu sein, das es rund eineinhalb Jahrtausende gewesen war, und wurde Hauptstadt Italiens. In wenigen Jahrzehnten veränderte ein gewaltiger Bauboom das urbane Gewebe Roms unwiderruflich. Zugleich prägte eine protestantisch dominierte Kirchengeschichtsschreibung namentlich aus Deutschland dem Papst und seiner Stadt einen Stempel des Anachronismus auf. Der aus Aachen gebürtige Ludwig von Pastor, gewiss kein Vorkämpfer der Ökumene, versuchte dem in all seinem Schreiben und Tun gegenzusteuern. Sei es mit seiner 16-bändigen „Geschichte der Päpste seit dem Ausgang des Mittelalters“, sei es mit seinem Büchlein „Die Stadt Rom zur Zeit der Reformation“, in dem er die untergehende Größe der ewigen Stadt, die so ewig gar nicht ist, in Wort und Bild für die Nachwelt dokumentieren wollte.

Von Pastor verarbeitete Stiche, Zeichnungen, Grund- und Aufriss-Skizzen, Gemälde, Fotografien zur Garnierung seiner nach Stadtvierteln geordneten Spaziergänge. Der Herausgeber der Neuauflage Martin Wallraff fügt mit Bedacht neue Aufnahmen dort hinzu, wo in 100 Jahren alles anders geworden ist, wo also etwa ein malerischer Innenhof Pastors zur Garage mutierte.

Rom anno 1916 konnte überhaupt nicht „papstfrei“ gedacht werden – anders als heute. Die Neuauflage dieses Büchleins erhebt nicht den Anspruch, eine Art religiöser Stadtführer zu sein, aber kirchenhistorisch aufgeladen ist jede Zeile und jede Abbildung dieses höchst ansprechenden Buchs. (rv)

Buchtipp: Ulrich Nersinger, Gott ist barmherzig

Nersinger_Buch_Gott_ist_barmberzig„Gott ist barmherzig“ heißt das Büchlein, das der auf Kirche und Vatikan spezialisierte deutsche Historiker Ulrich Nersinger im Verlag media Maria vorgelegt hat. In acht Kapiteln durchläuft der geschichtlich hochversierte Journalist verschiedene Gegebenheiten der Heiligen Jahre, spricht über die Ursprünge, die Pilgerströme durch die Jahrhunderte, die Persönlichkeiten und die Heiligen der Jubeljahre. Beispiel: heilige Pforten. Woher und wozu? Und warum waren die heiligen Pforten beim ersten Heiligen Jahr 1300 noch nicht mit dabei? Ulrich Nersinger:

Nersinger: „Pforten haben in der Menschheitsgeschichte eine immense Bedeutung, in Mesopotamien, Ägypten, germanische Götterwelt. Pforten als Zugang zu den Göttern oder einer himmlischen Wirklichkeit, ein Zugang vom Diesseits zum Jenseits. Gerichtsurteile werden in der Regel in der Pforte gehalten, eine alte Tradition. Diesen Reichtum hat die Kirche 1300 noch nicht aufgenommen.“

RV: Woran lag das?

Nersinger: „In der Geschichte der Heiligen Jahre sieht man eine Entwicklung. 1300 ist eine spontane Sache gewesen. In der Welt tauchte die Nachricht auf, 1300 würde man in Rom einen vollkommenen Ablass bekommen, und das hat die Menschen der Zeit, die stark geprägt waren von einem Sündenbewusstsein, aufgerufen, nach Rom zu kommen. Ohne dass es irgendein Zutun des Papstes gab. Der Papst war überrascht, welche Menschenmengen auf einmal nach Rom strömten, und er wollte diese Menschenmengen anschauen, wovor er gewarnt wurde. Er ist dann doch hin geritten vom Lateran nach Sankt Peter, dann hat er in den Archiven geforscht und ein Konsistorium der Kardinäle einberufen, und hat dann mehr oder weniger spontan die Einrichtung der Heiligen Jahr in der Kirche geschaffen.

RV: Sie fanden zunächst alle 50 Jahre statt.

Nersinger: „Nein, sie fanden zunächst sogar nur alle 100 Jahre statt. Da kam eine andere römische Tradition mit hinein. Wir kennen aus der Antike die 100-JahrFeiern, die Säkularfeiern, die immer einen Neubeginn markieren sollen. Das wurde also auch in der heidnischen Tradition schon etwas vorweg genommen.“

RV: Es gab auch außerordentliche heilige Jahre, aus Sonderanlässen.

Nersinger: „Ja, und das ist eine Erscheinung des 20. Jahrhunderts. Das erste war 1933 ganz bewusst von Pius XI gesetzt, gegen die damaligen Diktatoren, vor allem den Faschismus. Als er gefragt wurde, warum dieses außerordentliche Jubiläum, sagte er, er wolle der Welt zeigen, wer der wirkliche, der wahre Messias sei. Das war eine deutliche Ansage gegen Nationalsozialismus und den Faschismus.“

RV: Das derzeit laufende außerordentliche Jahr legt den Fokus auf die Barmherzigkeit, aber ist die Barmherzigkeit nicht eigentlich den Heilige Jahren immer schon eingeschrieben gewesen?

Nersinger: „Im Grund wäre es gar nicht nötig gewesen, das jetzige Heilige Jahr mit dem Zusatz „Barmherzigkeit“ zu versehen, denn das ist eigentlich immer die Absicht eines Heiligen Jahres gewesen. Der jetzige Heilige Vater fand das aber wichtig es besonders herauszuheben, weil es ein Leitmotiv seines Pontifikates ist. Und das zu Recht, aber wenn man sich die Geschichte anschaut, jedes Heilige Jahr ist immer ein Zugehen der Kirche auf die Menschen. Und des sich-Erbarmens mit ihren Anliegen.“

Ulrich Nersinger: Gott ist barmherzig. Ein Streifzug durch die Feier der Heiligen Jahre der katholischen Kirche. Media Maria, 15 Euro. (rv)