Botschaft von Papst Benedikt XVI. zum Segen „Urbi et Orbi" Ostern 2010
„Cantemus Domino: gloriose enim magnificatus est."
„Dem Herrn will ich singen, machtvoll hat er sich kundgetan."
(Stundengebet, Ostern, Lesehore, 1. Antiphon).
Liebe Brüder und Schwestern!
Mit diesen Worten der Liturgie, in denen der uralte Lobgesang der Israeliten nach dem Durchzug durch das Rote Meer anklingt, überbringe ich euch die Botschaft von Ostern. Das Buch Exodus (vgl. 15,19-21) erzählt, dass, nachdem die Israeliten auf trockenem Boden durch das Meer gezogen waren und die Ägypter im Wasser untergehen sahen, Mirjam – die Schwester Moses und Aarons – und die anderen Frauen mit Tanz dieses Jubellied anstimmten: „Singt dem Herrn ein Lied, denn er ist hoch und erhaben! Rosse und Wagen warf er ins Meer." Die Christen in aller Welt wiederholen diesen Gesang in der Osternacht, und ein besonderes Gebet erläutert seine Bedeutung: „Gott, deine uralten Wunder leuchten noch in unseren Tagen. Was einst dein mächtiger Arm an e i n e m Volk getan hat, das tust du jetzt an allen Völkern: Einst hast du Israel aus der Knechtschaft des Pharao befreit und durch die Fluten des Roten Meeres geführt; nun aber führst du alle Völker durch das Wasser der Taufe zur Freiheit. Gib, dass alle Menschen Kinder Abrahams werden und zur Würde des auserwählten Volkes gelangen."
Das Evangelium hat uns die Erfüllung der alten Bilder offenbart: Mit seinem Tod und seiner Auferstehung hat Jesus Christus den Menschen von der tiefgreifenden Knechtschaft der Sünde befreit und ihm den Weg in das verheißene Land, in das Reich Gottes, in das universale Reich der Gerechtigkeit, der Liebe und des Friedens aufgetan. Dieser „Auszug" geschieht zunächst im Menschen selbst und besteht in einer neuen Geburt im Heiligen Geist, einer Wirkung der Taufe, die Christus uns im Ostergeheimnis geschenkt hat. Der alte Mensch weicht dem neuen; das frühere Leben liegt hinter einem, man kann in einem neuen Leben wandeln (vgl. Röm 6,4). Der geistige „Auszug" ist aber Anfang einer umfassenden Befreiung, die fähig ist, jede menschliche, persönliche und soziale Dimension zu erneuern.
Ja, Brüder und Schwestern, Ostern ist das wahre Heil der Menschheit! Wenn Christus – das Lamm Gottes – nicht sein Blut für uns vergossen hätte, hätten wir keine Hoffnung, wäre unser Schicksal und das der ganzen Welt unausweichlich der Tod. Aber Ostern hat diese Tendenz umgekehrt: Die Auferstehung Christi ist eine neue Schöpfung, wie ein Pfröpfling, der die ganze Pflanze regenerieren kann. Es ist ein Geschehen, das die tiefe Richtung der Geschichte verändert hat, indem es ein für alle Mal das Gewicht zugunsten des Guten, des Lebens, der Vergebung verschoben hat. Wir sind frei, wir sind gerettet! Das ist der Grund, warum wir aus innerstem Herzen jubeln: „Dem Herrn will ich singen, machtvoll hat er sich kundgetan."
Aus dem Wasser der Taufe hervorgekommen, ist das christliche Volk in die ganze Welt gesandt, um dieses Heil zu bezeugen, um allen die Frucht von Ostern zu bringen, die in einem neuen Leben besteht, das von der Sünde befreit ist und das in seiner ursprünglichen Schönheit, seiner Güte und Wahrheit wieder hergestellt wurde. Ununterbrochen im Lauf von zweitausend Jahren haben die Christen – besonders die Heiligen – die Geschichte mit der lebendigen Ostererfahrung befruchtet. Die Kirche ist das Volk des Auszugs, da sie ständig das Ostergeheimnis lebt und dessen erneuernde Kraft zu jeder Zeit und an allen Orten verbreitet. Auch in unseren Tagen bedarf die Menschheit eines „Auszugs", nicht oberflächlicher Verbesserungen, sondern einer geistigen und moralischen Verwandlung. Sie bedarf des Heils des Evangeliums, um aus einer Krise herauszukommen, die tief ist und als solche tiefe Veränderungen verlangt, angefangen von den Gewissen der Menschen.
Jesus, den Herrn, bitte ich, dass im Nahen Osten, und besonders in dem durch seinen Tod und seine Auferstehung geheiligten Land, die Völker einen wahren und endgültigen „Auszug" aus dem Krieg und der Gewalt zum Frieden und zur Eintracht vollziehen mögen. An die christlichen Gemeinschaften, die insbesondere im Irak Prüfungen und Leid erleben, richte der Auferstandene erneut sein trostvolles und ermutigendes Wort, das er zu den Aposteln im Abendmahlssaal gesprochen hat: „Friede sei mit euch!" (Joh 20,21).
Für jene Länder Lateinamerikas und der Karibik, in denen die Kriminalität im Zusammenhang mit dem Rauschgifthandel gefährlich zunimmt, bedeute Ostern der Sieg des friedlichen Zusammenlebens und der Achtung des Gemeinwohls. Die geschätzte Bevölkerung Haitis, das von der ungeheueren Erdbebentragödie verwüstet wurde, vollziehe seinen „Auszug" aus der Trauer und Verzweiflung zu einer neuen Hoffnung, die von der internationalen Solidarität gestützt wird. Die geliebten Bürger Chiles, die von einer weiteren schweren Katastrophe gebeugt sind, aber vom Glauben aufrecht gehalten werden, mögen mit Beharrlichkeit den Wiederaufbau in Angriff nehmen.
In der Kraft des auferstandenen Jesus möge in Afrika den Konflikten ein Ende bereitet werden, die weiter Zerstörung und Leid verursachen, um zu jenem Frieden und zu jener Versöhnung zu gelangen, die Gewähr für die Entwicklung bieten. Dem Herrn vertraue ich im besonderen die Zukunft der Demokratischen Republik Kongo, Guineas und Nigerias an.
Der Auferstandene stütze die Christen, die wie in Pakistan wegen ihres Glaubens Verfolgung und sogar Tod erleiden. Er gebe den Ländern, die vom Terrorismus und von sozialen oder religiösen Diskriminierungen betroffen sind, die Kraft, Wege des Dialogs und des friedvollen Zusammenlebens einzuschlagen. Den Verantwortlichen aller Nationen bringe das Osterfest Christi, seine Auferstehung, Licht und Kraft, damit das Wirtschaftsleben und die Finanzaktionen endlich nach Kriterien der Wahrheit, der Gerechtigkeit und der brüderlichen Hilfe gestaltet werden. Die rettende Kraft der Auferstehung Christi stärke die ganze Menschheit, dass sie die vielfachen und tragischen Äußerungen einer sich ausbreitenden „Kultur des Todes" überwinde, um eine Zukunft der Liebe und Wahrheit aufzubauen, in der jedes menschliche Leben geachtet und angenommen wird.
Liebe Brüder und Schwestern! Ostern vollbringt keine Zauberei. Wie die Hebräer jenseits des Roten Meeres die Wüste vorfanden, so findet die Kirche nach der Auferstehung stets die Geschichte mit ihren Freuden und Hoffnungen, Leiden und Ängsten vor. Und dennoch hat sich diese Geschichte verändert, ist sie von einem neuen und ewigen Bund geprägt, ist sie wirklich offen für die Zukunft. Deswegen setzen wir, gerettet auf Hoffnung hin, unsere Pilgerreise fort und tragen dabei das alte und stets neue Lied im Herzen: „Dem Herrn will ich singen, machtvoll hat er sich kundgetan!". (rv)
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