Papst Franziskus und das Buch der Barmherzigkeit

Buch Franziskus 2016Papst Franziskus selbst habe die erste Ausgabe am Montagnachmittag in der Casa Santa Marta persönlich überreicht bekommen und am Dienstag wurde es vorgestellt: Das Interview-Buch von und mit Papst Franziskus mit dem Titel „Der Name Gottes ist Barmherzigkeit“. Verfasst wurde das Buch von La Stampa Vatikanist und der Website „Vatican-Insider“ Koordinator Andrea Tornielli. 40 Fragen stellte der Journalist dem kirchlichen Oberhaupt. Auf dem Umschlag ist der Titel des Buches handgeschrieben vom Papst selber zu sehen.

Interview vergangenen Juli aufgenommen

Im Juli 2015 wurde das Interview in dem Gästehaus und auch Wohnort des Papstes aufgenommen. Er war gerade erst von seiner Reise nach Ecuador, Bolivien und Paraguay zurückgekommen. Mit drei Aufnahmegeräten war der Vatikan-Journalist ausgestattet. Hauptthema des Gesprächs war die „Barmherzigkeit“ mit Blick auf das „Jahr der Barmherzigkeit“, welches fünf Monate später eröffnet wurde.

Kapitel 1: Es ist Zeit der Barmherzigkeit

Gebete, Reflexionen des vorhergehenden Pontifikats und das Bild der Kirche als ein „Feldlazarett, welches die Herzen der Menschen mit Nächstenliebe erwärmt.“ Das seien auch die Gründe dafür gewesen, ein Jahr der Barmherzigkeit auszurufen, betonte der Papst. Es sei jetzt die „richtige“ Zeit dafür, betonte er, denn wir würden ein doppeltes Drama erleben: der Sinn der Sünde sei verloren gegangen und daher sei die Menschheit verletzt. Geschwächt von den vielen „sozialen Krankheiten“ – der Armut, der Ausgrenzung, Menschenhandel, Gleichgültigkeit.

Die Gnade der Schande

Ein zentraler Punkt des ersten Kapitels ist die päpstliche Reflexion zum Thema der „Schande“. Dass sich „schämen“ werde verstanden wie eine „Gnade“, denn sie würde dem Sünder die Sünde erst ins Bewusstsein rufen. Hier betonte der Papst die Notwendigkeit des „Zuhörens“, das „Apostolat des Ohres“. Denn die Menschen hätten heute die große Notwendigkeit, dass ihnen jemand Zeit schenke und ihnen wirklich zuhören. Daher würden viele einen Wahrsager aufsuchen. Außerdem betonte der Papst, dass jeder Beichtende eine Segnung bekomme, auch wenn er das Sakrament der Beichte und der Absolution nicht empfangen könne.

Die Verantwortung des Beichtvaters

„Seid liebevoll zu diesen Personen“ – richtet der Papst sein Wort an die Geistlichen- „und schickt sie nicht weg.“ Denn die Menschen leiden, betonte der Papst und die Verantwortung des Beichtvaters sei genau aus diesem Grund nicht zu unterschätzen. Er erzählte hier die Geschichte seiner Nichte, die standesamtlich mit einem äußerst religiösen Mann verheiratet war, der jedoch noch keine kirchliche Ehe-Annullierung hinter sich hatte. Er bat bei der Beichte daher nicht um Absolution, sondern um einen Segen.

Kapitel 2: Die Beichte ist keine Wäscherei, keine Qual – Zuhören anstatt Befragen

Man gehe nicht zur Beichte um „verurteilt zu werden“, sondern um etwas Größeres als eine Verurteilung zu erleben, nämlich um die Barmherzigkeit Gottes anzutreffen.

Daher sei die Beichte, so der Papst, weder eine Wäsche, „wo die Sünde, wie ein Fleck nach einer Trockenwäsche einfach weg sei“ – noch ein Foltersaal, wo manche Beichtvater in einem „etwas krankhaften Exzess von Neugier“ das Gespräch in eine Befragung verwandle.

Kapitel 3: Sich als Sündiger anerkennen

Um die Barmherzigkeit Gottes empfangen zu können, sei es notwendig sich auch als Sünder zu „erkennen“, betonte der Papst. Denn das „Herz in Stücken“ sei die größte Gabe für Gott, sagte Franziskus. Damit meine er, dass wir unsere Sünde erkennen, die Schuld selbst sehen, dass sei bereits der große Schritt in die richtige Richtung. Die Barmherzigkeit sei unendlich groß, betonte er, viel größer als jede Sünde.

Kapitel 4: Auch der Papst benötige die Barmherzigkeit Gottes

Papst Franziskus selbst definiere sich als „Mann, der die Barmherzigkeit Gottes brauche“. Er rate den Beichtenden „nicht hochmütig sondern ehrlich seine Sünden zu betrachten“ und den Beichtvätern „die Sünden mit Zärtlichkeit zu betrachten und auch die eigenen Sünden nicht zu vergessen.“

Kapitel 5: Kirche verurteilt Sünde, aber umarmt Sünder

Auch wenn die Kirche die Sünde verurteile, so hätte sie immer offene Arme für den Sünder, betonte der Papst in dem Interviewgespräch mit Tronielli. In einem Verhältnis von „70 zu 7“ – also immer müsse man vergeben, so der Papst. Keine Sünde, so schlimm diese auch sei, sei nicht zu vergeben. Die Kirche sei also nicht auf dieser Welt, um zu „verurteilen, aber um ein Treffen von inniger Liebe und der Barmherzigkeit Gottes zu ermöglichen.“

Die Kirche als „Feldlazarett“

Die Aufgabe der Kirche sei es „die bedürftigen Menschen aus ihrer Not“ abzuholen und dies jedoch mit Achtung ihrer Menschenwürde. Zuhören, Verständnis, Vergebung und Liebe seien die Stichwörter. In Zeiten als Erzbischof von Buenos Aries in Argentinien erinnerte er sich an eine Frau, die ihren Körper verkaufen musste, um ihre Kinder zu erhalten – sie bedankte sich bei dem zukünftigen Papst dafür, dass er sie immer mit „Frau“ ansprach.

Kapitel 6: Nicht die Verletzungen der Sünde „lecken lassen“, aber in Richtung Gott bewegen

Auch in diesem Kapitel betont Franziskus, dass es nichts nütze nur nach einer Vergebung zu lechzen. Dies sei eine „narzisstische Krankheit, die nur zu einer Bitterkeit“ führe. Es sei die Bewegung Richtung Gott und die Anerkennung der Sünden die wichtige Aktion und die einzige Medizin gegen diese Volkskrankheit.

Keine Ausgrenzung für Homosexuelle

Auf die Frage über den Umgang mit homosexuellen antwortete Franziskus wie bereits bei seiner Rückreise von Rio de Janeiro 2013: „Wenn eine Person homosexuell ist, den Herren sucht und einen guten Willen zeigt, wer bin ich um zu urteilen?“

Er bevorzugt die Ausdrucksweise „homosexuelle Personen“ denn so würde die Person in ihrer gesamten Würde und Menschheit vorangestellt (Anm.: Im italienischen steht die Person vor dem Wort ‚homosexuell‘ [persone omosessuali] ). Er bevorzuge auch, dass sie in der „Nähe des Herren“ bleiben, so der Papst.

Barmherzigkeit als Glaubenslehre

Franziskus betonte in dem Interview, dass für ihn die Barmherzigkeit „wahr sei“, denn es sei die „erste Eigenschaft Gottes“. Man könne auch weitere Überlegungen über die Glaubenslehre anstellen, aber man dürfe nicht vergessen, dass die Barmherzigkeit Glaubenslehre sei, so der Papst. Die „Doktoren des Rechtes“ waren gegen Gott. Die Logik von Jesus sei die, das Böse in Gutes zu verwandeln, die weit entfernten erreichen und sie retten, alle Menschen zu retten, aber vor allem die Ausgegrenzten integrieren.

Türen öffnen, nicht schließen

Menschen mit einer kranken Seele brauchen offene Türen, so der Papst. Keine Verurteilung, keine verschlossenen Türen, keine Ausgrenzung. Die Christen dürften nicht das ausmachen, was der Heilige Geist im Herzen des Sünders anmache, so der Papst. Er bezog sich in diesem Zusammenhang auf Gesetze, zu strenge, die den Menschen nur die Türen vor den Augen zuwerfen würden und auch auf Kleriker, die sich zu sehr an der Glaubenslehre festhalten. Er nannte hierfür auch Beispiele – wie zum Beispiel eine Frau, die 500.000 Dollar für einen Ehe-Annullierungsprozess hätte zahlen sollen, oder die Verweigerung einer Beerdigung eines Kindes, weil es nicht getauft war.

Kapitel 7: Die systematische Sünde der Korruption

Eine sehr ausführliche Antwort hatte Franziskus auf die Frage nach der Korruption. Sie sei “die fortgeschrittene systematische Sünde, die zu einer Lebensart werde“. Der Korrupte sündigt ohne zu reuen, fingiert sein christliches Dasein und mit seinem Doppelleben von einem Skandal zum Nächsten, er denke, er müsse nicht mehr um Vergebung bitten. Mit seinem „Engelsgesicht“ hinterzieht er Steuern, kündigt Angestellte, beutet Schwarzarbeiter aus und gibt dann mit seiner „Schlauheit“ an – vielleicht sogar in der Messe am Sonntag. Sünder seien also zum Heiligen Jahr eingeladen, Korrupte nicht!

Kapitel 8: Mitleidenschaft gewinnt über Globalisierung und Gleichgültigkeit

Gottes Liebe sei unendlich, daran erinnert der Papst in diesem Kapitel. Er liebe mit Mitleidenschaft und Barmherzigkeit. Er sieht nicht auf Äußerlichkeiten, als würde er ein Foto machen, sondern er lasse sich „hineinziehen“. Genau dieses mitleiden würde man heute benötigen, so der Papst, man brauche sie, um die „Globalisierung der Gleichgültigkeit“ zu bekämpfen.

Kapitel 9: Barmherzigkeitswerke tun ist Teil des Spiels der christlichen Glaubwürdigkeit

Im letzten Kapitel des Interviewbuches konzentriert sich der Papst auf die Werke der Barmherzigkeit – körperlich und spirituell: „Sie sind immer aktuell und immer gültig, bleiben an der Basis der Gewissenserforschung und helfen, sich vor Gott zu öffnen“, so der Papst im Interview. Es ist die Auserwählung, Gott zu dienen – und ihn finde man in jedem Menschen der ausgegrenzt wird – im Ausgehungerten, Verdursteten, Nackten, Eingesperrten, Erkrankten, Arbeitslosen, Verfolgten – und auch im Flüchtling. In dem Willkommenheißen des Ausgegrenzten und des in der Seele verletzten spielt man eben die „christliche Glaubwürdigkeit“, so der Papst. Denn wie es auch der Heilige Johannes am Kreuz sagte, „am Lebensabend werden wir an unserer Liebe gemessen.“ (rv)

Große politische Grundsatzrede des Papstes

Papst FranziskusAlle Jahre wieder, immer kurz nach Neujahr, empfängt der Papst das beim Heiligen Stuhl akkreditierte Diplomatische Corps, also Botschafter aus aller Welt. Und dabei holt er traditionell aus zu einer ausführlichen Analyse der Weltlage. So auch an diesem Montag: Franziskus machte schon in den ersten Worten seiner Rede klar, dass die Welt aus seiner Sicht derzeit „von so vielen Übeln geplagt und bedrückt“ ist. Dennoch fand er bei seiner Tour d’horizon durchs Internationale auch einiges Positive. Hier sind die grundlegenden Gedanken aus der Papstrede.

Nein zur Gewalt im Namen Gottes

„Niemals kann man im Namen Gottes töten“: Das war der Ausgangspunkt des Papstes. Das Weihnachtsfest habe uns gerade daran erinnert, dass „jede authentisch gelebte religiöse Erfahrung nur den Frieden fördern“ könne. „Das Geheimnis der Menschwerdung zeigt uns das wahre Gesicht Gottes, für den Macht nicht Gewalt und Zerstörung bedeutet, sondern Liebe, und für den Gerechtigkeit nicht Rache bedeutet, sondern Barmherzigkeit.“

Damit war auch schon das Stichwort Barmherzigkeit gefallen, das für den Papst grundlegend ist; man denke nur an das derzeit laufende „Heilige Jahr der Barmherzigkeit“. Er habe es, so sagte Franziskus, absichtlich in Zentralafrika beginnen lassen, also in einem von Gewalt tief verwundeten Land. „Dort, wo der Name Gottes missbraucht worden ist, um Unrecht zu verüben, wollte ich gemeinsam mit der muslimischen Gemeinschaft der Zentralafrikanischen Republik bekräftigen: „Wer behauptet, an Gott zu glauben, muss auch ein Mensch des Friedens sein“ und folglich ein Mensch der Barmherzigkeit… Nur eine ideologische und irregeleitete Form von Religion kann daran denken, durch vorsätzlichen Mord an wehrlosen Menschen im Namen Gottes Gerechtigkeit zu erweisen, wie es in den blutigen Terroranschlägen der vergangenen Monate in Afrika, Europa und im Nahen Osten geschehen ist.“

Hauptakzente des letzten Jahres aus Vatikansicht: Barmherzigkeit und Familie

Barmherzigkeit war, so stellte es Franziskus an diesem Montag dar, sozusagen der Leitfaden seiner Reisen im vergangenen Jahr: nach Sri Lanka und auf die Philippinen, nach Bosnien, Lateinamerika, Kuba und in die USA. Ein weiterer Schwerpunkt seiner Reisen und überhaupt seines Handelns (vor allem der von ihm geleiteten Bischofssynode) sei der Einsatz für die Familie gewesen, die ja „die erste und wichtigste Schule der Barmherzigkeit“ sei – eine Formel, mit der der Papst die zwei Hauptakzente verklammerte.

„Leider wissen wir um die zahlreichen Herausforderungen, mit denen sich die Familie auseinandersetzen muss in dieser Zeit, in der sie bedroht ist durch zunehmende Bemühungen einiger, die Institution der Ehe selbst neu zu definieren, durch Relativismus, durch die Kultur der Kurzlebigkeit und durch mangelnde Offenheit für das Leben.“

Franziskus zeigte sich besorgt über die „individualistische Mentalität“ in vielen Gesellschaften. Sie sei der „Nährboden“, auf dem ein „Gefühl der Gleichgültigkeit gegenüber dem Nächsten“ reife. Das führe letztlich dazu, dass man mit Mitmenschen so umgehe, als seien sie „bloße Handelsware“; „zynisch“ werde man dadurch und „feige“. „Sind das denn nicht die Gefühle, die wir oft gegenüber den Armen, den Ausgegrenzten, den Letzten der Gesellschaft hegen? Und wie viele Letzte haben wir in unseren Gesellschaften!“ Damit war der Papst beim Thema Migration.

Migrations-Notstand und Flüchtlingsströme

„Massives, gewaltiges Phänomen“, „unvermeidliche Angst“, die es begleitet – so blickte Franziskus auf die Migrationsströme „vor allem in Europa“, aber auch in anderen Teilen der Welt. Er rückte das Geschehen in eine biblische Perspektive. „Tatsächlich erzählt uns die ganze Bibel die Geschichte einer Menschheit auf dem Wege, denn das In-Bewegung-Sein ist dem Menschen wesenseigen… Von der Vertreibung aus dem irdischen Paradies bis zu Abraham, der unterwegs ist zum Land der Verheißung; von der Erzählung des Exodus bis zur Deportation nach Babylonien schildert die Heilige Schrift Mühen und Leiden, Wünsche und Hoffnungen, die denen von Hunderttausenden von Menschen gleichen, die in unseren Tagen unterwegs sind.“

Wie einst Mose suchten die Migranten von heute – unter ihnen viele verfolgte Christen – ein Land, „in dem Milch und Honig fließen (Ex 3,17), wo man in Freiheit und Frieden leben kann“, so der Papst. Häufig sei es „extremes Elend“, das sie zur Migration zwinge. „Leider ist bekanntlich der Hunger noch eine der schwersten Plagen unserer Welt, mit Millionen von Kindern, die jedes Jahr verhungern. Es schmerzt jedoch festzustellen, dass diese Migranten häufig von keinem der internationalen Schutzsysteme aufgefangen werden, die auf den internationalen Verträgen basieren.“

Das sei eine Frucht der – von ihm häufig beklagten – „Wegwerfkultur“, urteilte der Papst. Sie bringe Menschen in Gefahr, indem sie sie „den Götzen des Gewinns und des Konsums opfert“. Arme, Behinderte, Ungeborene oder alte Menschen würden aussortiert; die „Arroganz der Mächtigen“ mache die Schwachen „zu Objekten für egoistische Ziele“.

Nein zum Menschenhandel

Auch so ein Thema, das diesem Papst besonders am Herzen liegt: der Kampf gegen Schlepper und Menschenhändler. Dass viele Staaten oder Staatenbündnisse „reguläre Migration“ unmöglich machen, treibt Migranten solchen zwielichtigen Geschäftemachern in die Hände, beklagte Franziskus. „Aus dieser Sicht erneuere ich noch einmal meinen Appell, dem Menschenhandel Einhalt zu gebieten, der die Menschen vermarktet, besonders die schwächsten und schutzlosesten. Immer werden unserer Erinnerung und unseren Herzen die Bilder von Kindern, die im Meer ums Leben kamen, unvergesslich eingeprägt bleiben – Opfer der Skrupellosigkeit der Menschen und der Erbarmungslosigkeit der Natur.“

Das war Franziskus’ Verbeugung vor dem kleinen Aylan Kurdi. Das Foto des Dreijährigen, der auf der Überfahrt von der Türkei nach Griechenland ertrunken ist, hat im September des letzten Jahres viele Menschen bewegt.

Ursachen der Migration beheben

„Einen großen Teil der Ursachen für die Migrationen hätte man schon vor Zeiten in Angriff nehmen können“, stellte der Papst fest. „So hätte man vielen Unglücken zuvorkommen oder zumindest ihre grausamsten Folgen abmildern können.“ Es sei dringend nötig, alles zu tun, „um den Tragödien Einhalt zu gebieten und den Frieden herzustellen“.

„Das würde aber bedeuten, eingefahrene Gewohnheiten und Gepflogenheiten wieder zur Diskussion zu stellen, vom mit dem Waffenhandel verbundenen Fragenkomplex über das Problem der Rohstoff- und Energieversorgung, über die Investitionen, die Finanzpolitik und die politischen Programme für Entwicklungshilfe bis zu der schweren Plage der Korruption.“

Nötig seien „mittel- und langfristige Pläne, die über den Notbehelf hinausgehen“. Das Ziel dabei sei ein Doppeltes: Integration der Migranten in den Aufnahmeländern einerseits, „solidarische Programme“ zur Entwicklung ihrer Herkunftsländer andererseits.

Europa

Vielleicht ist es auch seiner Auszeichnung mit dem Aachener Karlspreis 2016 geschuldet, dass der Papst an diesem Montag ausdrücklich auf die Lage in Europa einging. Es sei mit einem „Flüchtlingsstrom“ konfrontiert, wie es ihn in der jüngeren Geschichte noch nie gegeben habe.

„Die massenhaften Landungen an den Küsten des Alten Kontinents scheinen jedoch das System der Aufnahme ins Wanken zu bringen, das auf den Trümmern des Zweiten Weltkriegs mühsam aufgebaut wurde und immer noch ein Leuchtfeuer der Menschlichkeit darstellt, auf das man sich beziehen kann.“

Die Herausforderung für Europa sei gewaltig, nicht zuletzt angesichts von „Befürchtungen um die Sicherheit“. „Die augenblickliche Migrationswelle scheint die Fundamente jenes „humanistischen Geistes“ zu untergraben, den Europa von jeher liebt und verteidigt. Dennoch darf man sich nicht erlauben, die Werte und die Prinzipien der Menschlichkeit … und der gegenseitigen Solidarität aufzugeben, auch wenn sie in einigen Momenten der Geschichte eine schwer zu tragende Bürde sein können.“

Er sei davon überzeugt, dass Europa „die Mittel“ besitze, „ um das rechte Gleichgewicht zu finden“ zwischen Schutz der eigenen Bürger und Aufnahme der Neuankömmlinge. Das hört sich etwas gewundener an als „Wir schaffen das“… aber im Kern meint es dasselbe.

Viel Lob gab es von Papst Franziskus für Länder, die großzügig Flüchtlinge aufnehmen. Er nannte den Libanon, Jordanien, die Türkei und Griechenland, aber auch Italien. „Es ist wichtig, dass die Nationen an vorderster Front bei ihrer Auseinandersetzung mit dem aktuellen Notstand nicht allein gelassen werden.“ Migration werde „mehr, als das bisher der Fall war, ein grundlegendes Element der Zukunft der Welt darstellen“, da solle man sich nichts vormachen.

Migranten aus muslimischen Ländern

Islamische Terroristen, die sich unter Flüchtlinge mischen, oder Migranten in der zweiten Generation, die in Europa radikalisiert werden und Anschläge verüben – auch auf diese Szenarien ging Papst Franziskus ein. Dass junge Leute mit Migrationshintergrund in ihrem Aufnahmeland in den religiösen Extremismus abrutschten, habe auch mit der „Leere der fehlenden Ideale“ und dem „Verlust der – auch religiösen – Identität“ im „sogenannten Westen“ zu tun.

„Das Phänomen der Migration wirft also eine ernste kulturelle Frage auf, deren Beantwortung man sich nicht entziehen kann. Die Aufnahme kann daher eine günstige Gelegenheit sein für eine neue Einsicht und Öffnung des Horizontes.“ Nicht nur für den Aufgenommenen, der natürlich „Werte und Gesetze“ des Gastgebers respektieren müsse. Sondern auch beim Gastgeber selbst.

„Auf diesem Gebiet erneuert der Heilige Stuhl seinen Einsatz im ökumenischen und interreligiösen Bereich, um einen aufrichtigen und fairen Dialog einzuleiten, der dadurch, dass er die Besonderheiten und die persönliche Identität eines jeden zur Geltung bringt, ein harmonisches Zusammenleben aller sozialen Komponenten fördert.“

Positive Entwicklungen im letzten Jahr

Ja doch, 2015 war nicht nur ein „annus horribilis“, es hatte in internationaler Hinsicht auch sein Gutes. Sagt Papst Franziskus. „Ich denke vor allem an das sogenannte Atomabkommen mit dem Iran, das – wie ich hoffe – dazu beitragen möge, ein Klima der Entspannung in der Region zu fördern, wie auch an die Erzielung des erwarteten Klimavertrags im Laufe der Konferenz von Paris.“

Der Klimavertrag von Paris sei bedeutend; jetzt sei es aber auch wichtig, „dass die übernommenen Engagements nicht nur ein guter Vorsatz bleiben“, mahnte der Autor von „Laudato si’“, der ersten Enzyklika überhaupt zum Thema Umwelt. Froh ist Franziskus auch über die jüngsten Wahlen in Zentralafrika, über die Friedensgespräche in Kolumbien und über Zyperns Herantasten an eine Wiedervereinigung.

Herausforderungen für 2016

„Nicht wenige Spannungen“ hätten sich schon am Horizont „blicken lassen“: Damit meinte der Papst den saudisch-iranischen Konflikt, Nordkoreas Bombentest und den Konflikt in der Ost-Ukraine. Für Syrien und auch Libyen gebe es jetzt immerhin wieder Hoffnungen auf eine „politische und diplomatische Lösung“.

„Andererseits erscheint immer deutlicher, dass nur eine gemeinsame und abgestimmte politische Aktion dazu beitragen kann, die Ausbreitung des Extremismus und des Fundamentalismus aufzuhalten, mit ihren Hintergründen terroristischer Prägung, die sowohl in Syrien und Libyen als auch in anderen Ländern wie dem Irak und dem Jemen unzählige Opfer fordern.“ Welcher Art eine solche „Aktion“ sein müsste, führte der Papst nicht aus; ein Ruf nach Bodentruppen war das jedenfalls nicht.

„Die Herausforderung, die uns mehr als alle anderen erwartet, ist jedoch die, die Gleichgültigkeit zu überwinden, um den Frieden aufzubauen, der ein immer anzustrebendes Gut bleibt.“ Vor allem der Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern mit seinen „tiefen Wunden“ harre weiter einer Lösung. (rv)