Kardinal Angelo Scola ist im Nahen Osten. Der Erzbischof von Mailand, also von Europas größtem Bistum, ist von zwei Patriarchen eingeladen worden: zum einen Kardinal Béchara Boutros Raï, dem maronitischen Patriarchen von Antiochien, der in der Nähe der libanesischen Hauptstadt Beirut residiert; und zweitens Erzbischof Raphaël I. Sako, dem chaldäischen Patriarchen von Babylon, Irak. Hochkarätige Gastgeber sind das; Scola ist eine bekannte Größe im christlich-islamischen Dialog, er vertritt Europas – jedenfalls wie sie sich selbst sieht – wichtigste Ortskirche, nämlich die italienische; und da ist noch etwas. Irgendwie ist diese Reise auch ein Testlauf für einen Papstbesuch, falls Franziskus seine wiederholten Bemerkungen wahrmacht und wirklich einmal in den Irak reist.
Wir sprachen mit Kardinal Scola über seine Eindrücke, zunächst aus dem Libanon, der einmal als Modell-Land für das Zusammenleben religiöser Gruppen galt und, von der Prozentzahl her, die größte katholische Gemeinschaft in ganz Nahost aufweist. „Die Lage ist sehr beunruhigend, vor allem wegen der politischen Spaltung.“ Immer noch haben sich die politischen Lager nicht auf einen neuen Staatspräsidenten einigen können; das Amt steht nach dem Proporz, der am Ende des libanesischen Bürgerkriegs entwickelt wurde, einem maronitischen Christen zu.
„Der Patriarch drängt sehr darauf, dass endlich eine Straße für die Einigung gefunden wird. Diese ganze Frage ist eindeutig vom allgemeinen Kontext der Lage in Nahost beeinflusst; die auswärtigen Bezugspunkte haben zum einen mit der Hisbollah und ihrem Draht nach Syrien zu tun, zum anderen mit Saudi-Arabien. Die Lage ist deswegen so beunruhigend, weil sie nicht nur die Politik komplett lahmlegt, sondern auch die Wirtschaft runterzieht. Ich habe allerdings die Bischöfe sehr, sehr entschlossen erlebt, dieser Herausforderung die Stirn zu bieten und zumindest als katholische Riten geschlossen aufzutreten. Es geht um ein starkes ökumenisches Zusammenhalten, um dem Land ein klares christliches Angebot zu machen und um diese Spaltung unter den Christen zu überwinden, die eindeutig ein Skandal ist.“ Denn es sind ja nicht nur die muslimischen Gruppen im Libanon, die sich untereinander nicht einigen können; auch eine wichtige christliche Fraktion hält, aus einem ganzen Knäuel von Gründen und taktischem Kalkül heraus, zur schiitischen Hisbollah. Und das setzt auch die christlichen Kräfte in der Politik schachmatt.
Wie ein neues Sarajewo
„Syrien ist in einer ausgesprochen ernsten Situation“, fährt Kardinal Scola im Interview mit Radio Vatikan fort. „Vor allem das Leiden von Aleppo ist nicht akzeptabel: Das ist wie ein neues Sarajewo! Man sollte zumindest einen humanitären Korridor zustande bekommen, um wenigstens dieser Stadt etwas Erleichterung zu verschaffen. Das Problem ist, dass sich Europa darum kümmern müsste – es müsste wenigstens versuchen, die Lage etwas besser zu verstehen. Ich schließe wie auch Papst Franziskus eine humanitäre Intervention nicht aus, als Chance zur Befreiung.“
Der Kardinal von Mailand hat als Gast an der Synode der maronitischen Bischöfe des Libanon teilgenommen. Wir fragten ihn: Was sagen eigentlich die libanesischen Bischöfe dazu, dass Europa solche Bauchschmerzen mit Mittelmeer-Flüchtlingen hat? „Der Libanon ist ein Land, das zusätzlich zu den anderthalb Millionen palästinensischen Flüchtlingen, die es schon seit Jahrzehnten beherbergt, weitere anderthalb Millionen Syrien-Flüchtlinge aufgenommen hat! Darum ist es vom Libanon aus schwer zu verstehen, welche Mühe wir damit haben, Immigranten aufzunehmen. Ich selbst nehme für mich mit, dass wir als Kirche wirklich die erste Anlaufstelle sein sollten. Aber dann braucht es natürlich auch eine Einwanderungspolitik, die der Staat auf die Beine stellen muss; und da sieht man, dass die europäische Einigung eher noch ein Ziel ist, das es erst zu erreichen gilt. Ich glaube: Als erster muss der, der Schwierigkeiten hat, umarmt werden!” (rv)
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