Kardinal Tauran: „Christen und Muslime teilen gleiches Schicksal“

Die Christen im Nahen Osten sind „Brüder der Muslime". Das betont Kardinal Jean-Louis Tauran im Interview mit dem arabischen Nachrichtensender „Al Jazeera". Tauran ist Präsident des Päpstlichen Rates für den Interreligiösen Dialog und somit im Vatikan für das Gespräch mit den Muslimen verantwortlich. „Al Jazeera" ist der größte arabische TV-Sender mit Sitz in Doha. Das Interview wurde auf Englisch geführt. Es ist das erste Mal, dass ein Vatikanvertreter die Möglichkeit hat, sich direkt an ein arabisch-muslimisches Publikum wenden zu dürfen. Kardinal Tauran ging im Gespräch u.a. auf die Lage der Christen im Nahen Osten ein.

„Die Christen im Nahen Osten teilen dasselbe Schicksal mit all den anderen Mitbürgern ihrer Länder. Wo kein Friede herrscht, da kann es keine Zukunft geben. Leider sind aber viele Christen im Nahen Osten versucht, ihr Land zu verlassen. Das kann man vielleicht nachvollziehen, wenn man auf die Friedensgespräche schaut, die zwar fortdauern, aber deren Ende noch nicht in Aussicht steht. Die Christen denken dann an die Zukunft ihrer Kinder und suchen deshalb einen Ort, an dem sie in Sicherheit leben können."

Kardinal Tauran weist darauf hin, dass das Christentum im Nahen Osten bereits seit vielen Jahrhunderten existiert. Es sei deshalb eine Tragödie, wenn die Christen diese Region verlassen würden. Er glaube zwar nicht, dass es eine „koordinierte Kampagne" gegen die Christen im Nahen Osten und anderen vom Islam geprägten Ländern gebe, ist aber besorgt über das Entstehen einer „Zwei-Klassen-Gesellschaft" dort.

„Ehrlich gesagt weiß ich nicht, ob es eine solche koordinierte Kampagne gibt, aber ich sehe, dass beispielsweise im Irak viele Christen umgebracht werden und das gilt auch in vielen anderen Ländern im Nahen Osten. Jeden Tag berichten Zeitungen darüber. Man kann auch nicht leugnen, dass Christen oft gezielt angegriffen werden. Ich habe ja viele Jahre im Nahen Osten gelebt und ich habe erlebt, wie sich die Christen dort fühlen. Sie fühlen sich als Bürger zweiter Klasse in Ländern, in denen die Muslime in der Mehrheit sind."

Tauran sagt in dem Gespräch mit dem saudischen Journalisten Sami Zeidan, dass die Angriffe auf Christen nicht von den Regierungen oder politischen Gruppen ausgeführt würden. Vielmehr handele es sich um gezielte Angriffe einer bestimmten Fraktion. Tauran nennt hierbei fundamentalistische Gruppierungen. Der Vatikan sehe sich deshalb als „Verteidiger der Schwachen und Verfolgten".

„Das bedeutet konkret, dass wir vor allem denjenigen nahestehen, die wegen des Glaubens verfolgt werden. Wir sind ihnen im Gebet nahe. Der Heilige Stuhl ist vor allem im Bereich der diplomatischen Beziehung aktiv. Für das Heilige Land sind dann in diesem Zusammenhang die Pilgerfahrten besonders wichtig. Wir unterstützen diese, um den Christen dort zu zeigen, dass sie nicht alleine sind."

Kardinal Tauran weist auch darauf hin, dass die katholische Kirche sich nicht nur auf den Vatikan beschränkt. Deshalb sei die Arbeit der Ortskirche sehr wichtig, die täglich mit den Behörden und andersgläubigen Mitbürgern zu tun hat.

„Ich hoffe, dass der Arabische Frühling diese Beziehungen verbessern wird. Ursprünglich standen ja gute Absichten dahinter. Die Bewegung ist von jungen Leuten ausgegangen, die Würde, Freiheit und Arbeit suchen. Das sind Werte, die Christen und Muslime teilen. Aber hoffen wir, dass die Entwicklung auf einen Sommer hinführt, und nicht auf einen Winter. Die Werte, für die sie anfangs standen, sind solche, für die wir als katholische Kirche ebenfalls einstehen. Das sind aber auch Werte, die alle Menschen guten Willens auf der Welt teilen."

Tauran hoffe, dass sich die Menschen in den von der „Arabellion" geprägten Ländern wieder auf diese Werte zurückbesinnen.

„Hoffen wir, dass jene Politiker, die jetzt in den arabischen Ländern regieren, die Weisheit haben, für das Allgemeinwohl einzustehen. Wir leben im Jahr 2012 und es gibt das internationale Recht sowie die Menschenrechte. Das sind Grundpfeiler einer jeden Gesellschaft. Und dann dürfen wir nicht die Geschichte vergessen, die uns lehrt, dass Gewalt und Unterdrückung keine Lösung sind."

Religionen können nicht als „böse" Institutionen bezeichnet werden, sagt Tauran, als der Journalist von „Al Jazeera" ihn auf einige amerikanische Kirchenvertreter anspricht, die den Islam als „das schlimmste Übel" darstellen. Tauran weist darauf hin, dass es seit Jahrhunderten einen regen Dialog und Austausch zwischen Christen und Muslime gibt.

Im Hinblick auf die Situation im Heiligen Land äußerte sich der Präsident des Päpstlichen Rates für den Interreligiösen Dialog vor allem über die Jerusalem-Frage:

„Wenn das Problem der Heiligen Stätten nicht angemessen gelöst wird, gibt es keinen Frieden im Nahen Osten. Der Heilige Stuhl hat als einziger immer wieder gesagt: Bitte, lasst dieses Thema nicht bis zur letzten Minute offen. Es handelt sich um eine sehr komplexe Frage, die mit Intelligenz und guter Kenntnis der Geschichte behandelt werden muss."

Der Vatikan trete für einen international anerkannten rechtlichen Status für jenen Teil von Jerusalem ein, in dem sich die Heiligen Stätten der drei monotheistischen Religionen befinden. Im „Al Jazeera"-Interview plädierte Kardinal Tauran zugleich auch für Respekt vor den heiligen Büchern der Religionen, die „Schätze der jeweiligen Gemeinschaften" seien.

„Ohne diesen Respekt entsteht ein „Dschungel", und was das bedeutet, zeigt beispielsweise die Verbrennung von Koran-Ausgaben in einem Truppenstützpunkt in Afghanistan."

Was die Angst vor dem Islam betrifft, so sei diese Angst auf „Ignoranz" zurückzuführen:

„Wenn man mit rechts orientierten Gruppen spricht, entdeckt man, dass sie niemals in den Koran hineingeschaut haben, niemals mit einem Muslim zusammengetroffen sind. Es bedarf einer großen Anstrengung, sie besser auszubilden. Es ist gelungen, den 'Clash of civilizations' zu vermeiden. Versuchen wir, auch den Zusammenprall der wechselseitigen Ignoranz zu vermeiden."

Europa müsse dazu aber vor allem wieder das Christentum kennenlernen. Denn das Problem sei der „religiöse Analphabetismus":

„Die Jugend kennt die Religion nicht mehr. Im muslimischen Bereich muss aber ebenfalls in der Schule über die anderen Religionen informiert werden. Es gibt in diesen Ländern Schulbücher, in denen die Christen nie Christen, sondern Ungläubige genannt werden. Das ist nicht gerecht."
(rv)