Vatikan: 300 Pädophilie-Anzeigen in neun Jahren

Die vatikanische Glaubenskongregation hat in den vergangenen neun Jahren 300 Anzeigen pädophiler Handlungen durch Kleriker behandelt. Diese Zahl nannte der Promotor Iustitiae Charles J. Scicluna. Er ist eine Art Strafverfolger der Behörde für schwere kirchenrechtliche Vergehen. Insgesamt gingen im Vatikan seit 2001 etwa 3.000 Beschuldigungen wegen sexueller Übertretungen von Diözesan- und Ordenspriestern ein. Das sagte Scicluna in einem Interview mit der katholischen italienischen Tageszeitung „Avvenire“ (Samstag).
„De delictis gravioribus“
2001 trat das Dekret „De delictis gravioribus“ in Kraft. Diese Regelung sieht vor, dass die Zuständigkeit für solche Kirchenprozesse der Glaubenskongregation zugewiesen wird. Bei den 3.000 Fällen handele es sich um Vorgänge aus den zurückliegenden 50 Jahren, so Scicluna. Der Großteil der Fälle betreffe die USA. Etwa 60 Prozent der Anzeigen hätten sich auf „sexuelles Hingezogensein zu Heranwachsenden desselben Geschlechts“ bezogen, 30 Prozent auf heterosexuelle Beziehungen. Zehn Prozent beträfen Akte der Pädophilie im eigentlichen Sinn. Diese 300 Fälle seien „immer noch zu viele“, betonte Scicluna. Allerdings sei „das Phänomen nicht so verbreitet, wie einige glauben machen wollen“.
In 20 Prozent aller Fälle sei es zu einem eigentlichen kirchlichen Straf- oder Verwaltungsverfahren gekommen. Davon habe die Hälfte mit einer Entlassung aus dem Klerikerstand geendet, die andere Hälfte mit einer Bitte der Beschuldigten um eine Entpflichtung von ihren Aufgaben. Dazu gehörten laut Scicluna etwa Priester, die wegen Besitzes von kinderpornographischem Material von einem staatlichen Gericht verurteilt worden waren. 60 Prozent der Anklagen seien mit Blick auf das Alter der Beschuldigten nicht zu Ende verfolgt, aber gegebenenfalls mit Verwaltungs- oder Disziplinarmaßnahmen abgeschlossen worden.
Im Blick auf die zivile Verfolgung sexueller Vergehen betonte Scicluna, in einigen Ländern seien Bischöfe verpflichtet, Verfehlungen von Priestern den Justizbehörden anzuzeigen, wenn sie außerhalb der sakramentalen Beichte davon Kenntnis erhielten. Dies gelte etwa im angelsächsischen Bereich oder in Frankreich. Wo eine gesetzliche Anzeigepflicht für die Bischöfe fehle, ermuntere der Vatikan die Kirchenleiter, die Opfer bei einer Anzeige bei staatlichen Behörden zu unterstützen.
(rv)

Lesen Sie hier eine deutsche Übersetzung des Avvenire-Interviews
Monsignor Charles J. Scicluna ist der „Anwalt der Gerechtigkeit“ der Kongregation für die Glaubenslehre. In der Praxis handelt es sich um den Staatsanwalt des Tribunals des früheren „Heiligen Uffiziums“, der die Aufgabe hat, so genannte „delicta graviora“ zu untersuchen, also Vergehen, die die katholische Kirche als die absolut schwerwiegendsten einstuft: Das sind die Vergehen gegen die Eucharistie, Vergehen gegen die Heiligkeit des Bußsakraments und der Verstoß gegen das sechste Gebot („Du sollst nichts Unkeusches tun“) durch einen Kleriker mit einem Jugendlichen unter 18 Jahren. Vergehen, für die ein „Motu proprio“ von 2001 mit dem Titel „Sacramentorum sanctitatis tutela“ der Kongregation für die Glaubenslehre die Kompetenz zugesprochen hat. Und Monsignor Scicluna, ein Malteser mit liebenswürdig-freundlichen Umgangsformen, steht im Ruf, die ihm übertragene Aufgabe mit der größten Genauigkeit anzugehen – ohne Ansehen der Person.
Monsignore, Sie gelten als gnadenlos; dabei wird der katholischen Kirche systematisch vorgehalten, mit den so genannten „pädophilen Priestern“ zu entgegenkommend zu sein.
Es mag sein, dass in der Vergangenheit einige Bischöfe – vielleicht auch aus dem irregeleiteten Wunsch heraus, die Institution zu verteidigen – in der Praxis zu nachsichtig mit diesen überaus traurigen Phänomenen umgegangen sind. Ich sage: in der Praxis, denn auf der prinzipiellen Ebene war die Verurteilung dieser Art Vergehen immer schon unerschütterlich und unmißverständlich. Um beim vergangenen Jahrhundert zu bleiben, sei nur einmal an die mittlerweile berühmte Instruktion „Crimen Sollicitationis“ von 1922 erinnert…
Aber war die nicht von 1962?
Nein, die erste Fassung geht auf das Pontifikat von Pius XI. zurück. Dann hat das „Heilige Uffizium“ in der Zeit des seligen Johannes XXIII. eine neue Fassung für die Konzilsväter erstellt, aber nur in zweitausend Ausgaben, die für eine Verteilung nicht ausreichten, so dass diese Verteilung sine die (unbefristet) aufgeschoben wurde. Da ging es immerhin um prozedurale Normen, die in Fällen einer Verführung eines/r Beichtenden durch den Beichtvater zu befolgen waren, und um weitere sehr schwerwiegende Vergehen sexueller Art wie sexueller Missbrauch von Minderjährigen…
Normen, die allerdings das Geheimhalten empfahlen…
Eine schlechte Übersetzung dieses Textes ins Englische hat den Eindruck erweckt, als ob der Heilige Stuhl die Geheimhaltung durchsetzen wollte, um die Tatsachen zu vertuschen. Aber so war es nicht. Das Ermittlungsgeheimnis diente dazu, den guten Ruf aller beteiligten Personen zu schützen, vor allem den guten Ruf der Opfer selbst, und dann auch den der angeklagten Kleriker, die – wie ein jeder – das Recht auf die Unschuldsvermutung bis zum Beweis des Gegenteils haben. Die Kirche liebt keine Spektakel-Justiz. Das Regelwerk über sexuellen Missbrauch ist nie als Verbot verstanden worden, eine Anzeige bei den zivilen Behörden zu erstatten.
Dieses Dokument wird allerdings immer wieder erwähnt, um dem jetzigen Papst vorzuwerfen, er sei – in seiner Amtszeit als Präfekt des früheren „Heiligen Uffiziums“ – objektiv der Verantwortliche für eine Politik des Vertuschens der Tatsachen durch den Heiligen Stuhl gewesen…
Das ist ein falscher und verleumderischer Vorwurf. Im Hinblick darauf erlaube ich mir, auf einige Tatsachen hinzuweisen. Zwischen 1975 und 1985 ist meines Wissens kein einziger Hinweis auf Fälle von Pädophilie bei Klerikern zur Kenntnis unserer Kongregation gelangt. Doch gab es nach dem Erlass des Kodex des Kirchenrechts von 1983 eine Phase der Unsicherheit über die genaue Liste der „delicta gravioria“, die der Kompetenz dieses Dikasteriums vorbehalten sind. Erst mit dem „Motu proprio“ von 2001 ist das Vergehen der Pädophilie wieder in unsere exklusive Kompetenz zurückgekehrt. Und von diesem Moment an hat Kardinal Ratzinger Weisheit und Festigkeit beim Umgang mit diesen Fällen gezeigt. Mehr noch: Er hat auch großen Mut gezeigt, als er einige sehr schwierige und heikle Fälle sine acceptione personarum angegangen ist. Dem jetzigen Papst also Vertuschung vorzuwerfen, ist, wie gesagt, falsch und verleumderisch.
Was passiert, wenn ein Priester eines delictum gravius beschuldigt wird?
Wenn die Anklage glaubwürdig ist, hat der Bischof die Pflicht, sowohl die Zuverlässigkeit des Vorwurfs als auch ihren eigentlichen Inhalt zu untersuchen. Und wenn das Ergebnis dieser Voruntersuchung glaubwürdig ist, hat er keine Gewalt mehr, über die Materie zu befinden, und muss den Fall unserer Kongregation mitteilen, wo er vom disziplinarischen Büro behandelt wird.
Wer gehört zu diesem Büro?
Außer mir selbst, der ich als einer der Vorgesetzten des Dikasteriums auch andere Fragen behandle, gibt es einen Büroleiter, Pater Pedro Miguel Funes Diaz, sieben Geistliche und einen Strafrechtler – einen Laien –, die diese Verfahren bearbeiten. Andere Offiziale der Kongregation leisten jeweils einen wertvollen Beitrag, je nach den Notwendigkeiten von Sprache und Kompetenz.
Diesem Büro ist vorgeworfen worden, wenig und langsam zu arbeiten…
Das sind ungerechte Einschätzungen. 2003 und 2004 gab es eine Lawine von Fällen, mit der unsere Schreibtische überschüttet wurden. Viele davon kamen aus den USA und betrafen die Vergangenheit. In den letzten Jahren hat sich das Phänomen Gott sei Dank doch weitgehend reduziert. Und daher versuchen wir jetzt, die neuen Fälle in Echtzeit zu behandeln.
Wieviele davon haben Sie und Ihre Mitarbeiter bis jetzt behandelt?
Insgesamt haben wir in diesen letzten neun Jahren (2001 bis 2010) Anzeigen beurteilt, die etwa 3.000 Fälle von Diözesan- und Ordenspriestern betrafen und die sich auf Vergehen bezogen, die in den letzten fünfzig Jahren begangen worden sind.
Also 3.000 Fälle von pädophilen Priestern?
So kann man das korrekterweise nicht sagen. Wir können sagen, dass es sich grosso modo in sechzig Prozent dieser Fälle vor allem um Akte von Ephebophilie handelt, das heißt: Akte, die mit dem sexuellen Hingezogensein zu Heranwachsenden desselben Geschlechts zusammenhängen. Weitere dreißig Prozent beziehen sich auf heterosexuelle Beziehungen, und zehn Prozent sind tatsächlich Akte der Pädophilie, also bestimmt durch das sexuelle Hingezogensein zu Kindern im vorpubertären Alter. Die Fälle von Priestern, die der Pädophilie im strengen Sinn des Wortes beschuldigt werden, sind also etwa dreihundert binnen neun Jahren. Das sind – um Gottes willen! – immer noch zu viele Fälle, aber man sollte doch anerkennen, das das Phänomen nicht so verbreitet ist, wie einige glauben machen wollen.
Also 3.000 Beschuldigte. Wie vielen wurde der Prozess gemacht, wie viele verurteilt?
Man kann in etwa sagen, dass es in zwanzig Prozent der Fälle einen richtigen Prozess gegeben hat, ob straf- oder verwaltungsrechtlich, und normalerweise ist er im Herkunftsbistum – immer unter unserer Aufsicht – durchgeführt worden und nur in sehr seltenen Fällen hier in Rom. Wir halten das auch deswegen so, damit der iter schneller ablaufen kann. Doch hat es in sechzig Prozent der Fälle vor allem wegen des fortgeschrittenen Alters der Beschuldigten keinen Prozess gegeben; allerdings wurden gegen sie Verwaltungs- und Disziplinarmassnahmen ergriffen wie etwa die Auflage, keine Messen mit den Gläubigen mehr zu feiern, keine Beichte mehr zu hören, ein zurückgezogenes Leben des Gebets zu führen. Man sollte noch einmal betonen, dass es sich in diesen Fällen, unter denen auch einige besonders eklatante sind, mit denen sich die Medien beschäftigt haben, nicht um Freisprüche handelt. Zwar hat es keine formale Verurteilung gegeben, aber wenn jemand zu Schweigen und Gebet verpflichtet wird, dann gibt es dafür schon einen guten Grund…
Da sind aber noch zwanzig Prozent weitere Fälle…
Sagen wir: In zehn Prozent der Fälle, nämlich den besonders schwerwiegenden und bei denen erdrückende Beweise vorliegen, hat der Heilige Vater die schmerzliche Verantwortung auf sich genommen, ein Dekret über den Rückzug aus dem Klerikerstand zu autorisieren. Eine äußerst schwerwiegende Maßnahme, die auf dem Verwaltungsweg getroffen wird, aber unvermeidlich. In den übrigen zehn Prozent der Fälle waren es dann die beschuldigten Kleriker selbst, die um Dispens von den Pflichten gebeten haben, die sich aus dem Priesteramt ergeben. Was auch prompt angenommen wurde. Zu diesen letztgenannten Fällen gehören die Priester, die im Besitz von kinderpornographischem Material gefunden wurden und die dafür von der zivilen Autorität verurteilt worden sind.
Woher kommen diese dreihundert Fälle?
Vor allem aus den USA, die in den Jahren 2003-2004 etwa achtzig Prozent aller Fälle stellten. Für 2009 ist der US-„Anteil“ auf ca. 25 Prozent der 223 neuen Fälle, die aus aller Welt gemeldet wurden, gesunken. In den letzten Jahren (2007-2009) lag tatsächlich der jährliche Durchschnitt von Fällen, die der Kongregation aus aller Welt gemeldet wurden, bei 250 Fällen. Viele Länder zeigen uns nur einen oder zwei Fälle an. Es wächst also die Vielfalt und die Zahl der Herkunftsländer von Fällen, aber das Phänomen ist ziemlich reduziert. Man muss ja daran erinnern, dass die Gesamtzahl von Diözesan- und Ordenspriestern weltweit bei 400.000 liegt. Dieser statistische Wert entspricht nicht dem Eindruck, der entsteht, wenn diese traurigen Fälle die ersten Seiten der Zeitungen füllen.
Und aus Italien?
Bislang scheint das Phänomen keine dramatischen Ausmaße zu haben, auch wenn mich doch beunruhigt, dass ich auf der Halbinsel noch eine gewisse Kultur des Schweigens zu sehr verbreitet finde. Die Italienische Bischofskonferenz (CEI) bietet einen hervorragenden technisch-juristischen Beratungsdienst für die Bischöfe, die solche Fälle zu behandeln haben. Ich stelle mit großer Befriedigung ein immer stärkeres Engagement von Seiten der italienischen Bischöfe fest, Klarheit in den Fällen, auf die man sie hinweist, zu schaffen.
Sie sagten eben, dass es in etwa zwanzig Prozent der ca. 3.000 Fälle, die Sie in den letzten neun Jahren untersucht haben, zu richtiggehenden Prozessen kam. Endeten die alle mit der Verurteilung der Beschuldigten?
Viele der mittlerweile berühmten Prozesse endeten mit einer Verurteilung des Beschuldigten. Aber es gab auch einige, in denen der Priester für unschuldig erklärt wurde oder in denen die Vorwürfe nicht für hinreichend bewiesen angesehen wurden. In allen Fällen aber wird nicht nur Schuld oder Unschuld des angeklagten Klerikers untersucht, sondern auch eine Einschätzung vorgenommen, inwieweit er für die Ausübung eines Amtes in der Öffentlichkeit geeignet ist oder nicht…
Ein häufiger Vorwurf an die kirchlichen Autoritäten ist der, dass sie nicht die Vergehen der Pädophilie, von denen sie Kenntnis bekommen, den zivilen Behörden anzeigen.
In einigen Ländern mit angelsächsischer Kultur, aber auch in Frankreich sind die Bischöfe dazu verpflichtet, wenn sie außerhalb des sakramentalen Beichtgeheimnisses Kenntnis von Vergehen ihrer Priester erhalten, diese den Justizbehörden anzuzeigen. Es handelt sich um eine Verpflichtung, die alles andere als leicht fällt, denn diese Bischöfe sind dazu gezwungen, etwas zu tun, was man damit vergleichen könnte, dass Eltern ihren eigenen Sohn anzeigen. Dennoch geben wir in diesen Fällen die Vorgabe, das Gesetz zu respektieren.
Und was ist in den Fällen, wo die Bischöfe nicht diese gesetzliche Verpflichtung haben?
In diesen Fällen erlegen wir es den Bischöfen nicht auf, ihre eigenen Priester anzuzeigen, aber wir ermuntern sie, sich an die Opfer zu wenden und sie einzuladen, diese Priester, deren Opfer sie geworden sind, anzuzeigen. Außerdem raten wir ihnen dazu, diesen Opfern jeden nur möglichen geistlichen und sonstigen Beistand zu leisten. In einem Fall vor nicht langer Zeit, der einen von einem italienischen Zivilgericht verurteilten Priester betrifft, war es tatsächlich diese Kongregation, die den Anzeigenden vorschlug, als diese sich wegen eines kanonischen Prozesses an uns wandten, sich doch im Interesse der Opfer und um andere Vergehen zu verhindern auch an die zivilen Autoritäten zu wenden.
Eine letzte Frage: Ist für die delicta graviora eine Verjährung vorgesehen?
Da rühren Sie an einen – aus meiner Sicht – schmerzhaften Punkt. In der Vergangenheit, das heißt vor 1889, war die Verjährung der Straftat eine Einrichtung, die es im Kirchenrecht nicht gab. Und für die schwerwiegendsten Vergehen wurde erst mit dem „Motu proprio“ von 2001 eine Verjährungsfrist von zehn Jahren eingeführt. Aufgrund dieser Normen beginnt die Zehn-Jahres-Frist in Fällen von sexuellem Missbrauch mit dem Tag, an dem der bis dahin Minderjährige das 18. Lebensjahr vollendet.
Reicht das denn aus?
Die Praxis zeigt, dass eine Zehn-Jahres-Frist dieser Typologie von Fällen nicht angemessen ist und dass es wünschenswert wäre, zum früheren System zurückzukehren, nach dem es für die delicta graviora keine Verjährung gibt. Immerhin hat der Diener Gottes Johannes Paul II. am 7.11.2002 diesem Dikasterium die Vollmacht gegeben, im Einzelfall auf begründete Anfrage der einzelnen Bischöfe hin diese Verjährungsfrist nicht zu beachten. Und die entsprechende Ausnahmeregelung wird normalerweise auch gewährt. (rv)

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