Mehr als zweihundert Mordopfer seit Oktober im Bundesstaat Sao Paolo: Das ist selbst für das an Gewalt gewöhnte Brasilien beunruhigend. Ende November trat wegen der Mordwelle der regionale Minister für öffentliche Sicherheit zurück. Eine kriminelle Gruppe scheint viele der Anschläge aus dem Gefängnis heraus zu koordinieren, viele der Opfer sind Polizisten, aber die meisten sind Passanten, die sozusagen zur falschen Zeit am falschen Ort waren. Kardinal Odilo Scherer ist Erzbischof von Sao Paolo. Er sagte im Interview mit Radio Vatikan:
„Das ist ein ziemlich neues Phänomen. Zwar hatten wir immer schon Gewalt, aber dieses Jahr kommt dazu auch ein Kampf gegen die Polizei, und es ist herausgekommen, dass eine Gruppe Morde an Politikern geplant hat. Andererseits fällt der Einsatz der Polizei beim Kampf gegen die Gewalt zuweilen ebenfalls gewalttätig aus. Leider haben wir jetzt jeden Tag in den Zeitungen eine Statistik, wie viele Menschen am Tag zuvor umgebracht worden sind; der Durchschnitt liegt bei acht bis zehn Personen in der ganzen Sao-Paolo-Metropolenregion, in der mehr als zwanzig Millionen Menschen leben. Offensichtlich hat sich die organisierte Kriminalität in den letzten Jahren bestimmter Räume – geographisch gesprochen – und bestimmter Stadtviertel bemächtigen können, wo mittlerweile die Sicherheitskräfte nicht mehr hingehen können. Ihnen kommt die Korruption zugute und das Geld aus Drogengeschäften und Schmuggel."
Er könne nicht behaupten, dass die Regierung angesichts des Vordringens der organisierten Kriminalität untätig geblieben sei, so der aus einer deutschbrasilianischen Familie stammende Kardinal. Sie habe unter anderem auch bei der Polizei einige Umbesetzungen vorgenommen und Grenzkontrollen verstärkt.
„Aber auf der anderen Seite gibt es hier auch einen kulturellen Faktor, den man erkennen muss – und genau auf diesem Feld versuchen auch wir als Kirche unseren Beitrag zu leisten. Wir stehen hier vor einem ganz und gar nicht banalen Absturz im Wertesystem: Es geht um moralische, um Lebens-, um Personenwerte, um Menschenwürde, Ehrlichkeit… Mit der organisierten Kriminalität schreitet ja auch die Korruption in mehreren sozialen Schichten voran, und gleichzeitig erscheint vielen der Konsumismus das große Ziel, der einzige Bezugspunkt fürs Handeln zu sein. Hier gehen elementar menschliche Werte über Bord! Und auch das gibt der Gewalt einen Raum, den sie okkupieren kann. Wir brauchen also eine neue Erziehung, die aus den Menschen wirklich Personen macht und nicht Wirtschaftsobjekte, Produzenten oder Konsumenten."
Scherer träumt von einer „kulturellen Wende", einer „neuen Mentalität". Die Kirche stehe auf der Seite der Gewaltopfer und bemühe sich, an den Voraussetzungen für die Gewalt etwas zu ändern. Doch anders als manche Agenturmeldungen das in den letzten Wochen suggerierten, werde das kirchliche Bild in Sao Paolo nicht von abgesagten Gottesdiensten und verbarrikadierten Kirchentüren bestimmt: So weit gehe die Angst vor der Gewalt dann doch wieder nicht. Die Christen bereiteten sich auf Weihnachten vor, so der Kardinal, überall würden Novenen gebetet und Gottesdienste gefeiert.
„Zum Glück haben wir es dieses Jahr auch geschafft, den Behörden wieder etwas klarer zu machen, dass Weihnachten etwas mit Jesus zu tun hat! Denn vor einiger Zeit – und das hatte mich sehr getroffen – war auf Weihnachtsplakaten und –glückwünschen noch nicht einmal der Name Jesus erwähnt worden. Und manchmal wurde sogar das Wort ,Weihnachten‘ vermieden – unter dem Motto ,Frohes Fest‘ oder so. Dieses Jahr hingegen wird Jesus wieder erwähnt, und man sieht Krippen an öffentlichen Plätzen und spricht von ,Weihnachten‘. Da ist eine Wiederaneignung des christlichen Elements im Gang." (rv)
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