„Kartell des Wegschauens“ – diese Formel findet der Jesuitenpater Bernd Hagenkord, Leiter der deutschsprachigen Abteilung von Radio Vatikan, für die Mißbrauchsfälle in der katholischen Kirche. Er plädiert für eine strikte Umsetzung der Richtlinien der Bischofskonferenz, um Missbrauch zukünftig zu verhindern. Lesen Sie hier unser Interview mit Pater Hagenkord.
Pater Hagenkord, kann man bei den jüngsten Mißbrauchsfällen von einem „Kartell des Schweigens“ sprechen?
„Ein Kartell des Schweigens setzt voraus, dass es quasi gewollt ist, zu schweigen. Das weiß ich nicht; das kann in einigen Fällen sein, dass man bewusst die Entscheidung getroffen hat und gesagt hat: Das kann ja gar nicht sein, da mockieren sich nur ein Paar Jungs. Einige Fälle gibt es sicherlich auch, wo man aus Scham und Uneinsichtigkeit geschwiegen hat, wo man aber keinen bösen Willen unterstellen kann. In jedem Fall aber hat es Jahrzehnte lang zu viel Schweigen und vor allem auch Weggucken gegeben! Das ist für mich das eigentliche Kartell, das Kartell des Wegguckens, des Sich-Nicht-Kümmerns, ob es da bei einem Mitbruder im Priesteramt ein Problem gibt oder in einem Nonnenkonvent oder einer Schule usw. Man hat viel zu lange weggeschaut, die Opfer haben es zu spüren bekommen, und die Täter sind viel viel zu lange geschützt worden!“
Wie kann wirkungsvolle Prävention aussehen?
„Das hängt davon ab, ob die Richtlinien, die es seit 2002 gibt, auch alle umgesetzt werden. Ich halte sie für gut, wenn man sich nur daran hält! Denn sie stellen sicher, dass a) der Opferschutz eingehalten wird und b) dass man an die Öffentlichkeit geht und nicht den Ruf der Kirche über den Schutz des Opfers stellt.“
Sie selbst sind Jesuit und waren in den letzten Jahren Jugendseelsorger – wie sind Sie mit diesem Thema in Ihrem Orden umgegangen?
„Ich habe immer versucht, offen damit umzugehen, habe das dann auch immer den jungen Erwachsenen, die ehrenamtlich mitgearbeitet haben, gesagt, dass das ein Thema ist, dass wir uns darum kümmern müssen, dass wir als Jugendseelsorger da auch professionelle Hilfe und Rat brauchen… Wie erkennt man so etwas? Wie geht man damit um? Was sind Warnsignale, die man bei Jugendlichen empfängt aber auch eben Verhaltensweisen? Wie verhalte ich mich? Gehe ich mit Jugendlichen in einen Raum, wo mich keiner sehen kann? Nein, auf keinen Fall! Denn man muss sich auch gegenseitig schützen. Das war unter uns sicherlich ein Thema.“
Welche Konsequenzen haben die Fälle für den Jesuitenorden?
„Das werden wir aufzuarbeiten haben, aber das dauert noch ein bisschen. Ich denke, eine Generation haben wir noch vor uns, bevor wir sagen können: Das ist Vergangenheit. Im Augenblick ist das alles noch Gegenwart.“ (rv)
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Sic non tacuisses: Pius und der Jesuit
Ja, Pius XII. hat im wesentlichen zum Holocaust geschwiegen – für diese Feststellung braucht man noch nicht einmal eine vatikanische Archiv-Öffnung. Die wirklich spannende Frage ist doch, warum der Pacelli-Papst (für den ein Seligsprechungsverfahren in Gang ist) nicht öffentlich gegen die Judenvernichtung durch die Nazis protestierte, sondern sich – was auch nicht jeder von sich behaupten kann – auf die Rettung hunderter verfolgter Juden in Rom „beschränkte“. Zu Pius` Motiven erschien schon 1964 ein Aufsatz des Jesuitenpaters Paolo Dezza – damals Rektor der Universität Gregoriana, später Kardinal, verstorben 1999. Wir dokumentieren hier die wesentlichen Auszüge aus dem Text des Jesuiten.
„Im Dezember 1942 hielt ich die Exerzitien für den Heiligen Vater im Vatikan. Dabei hatte ich eine lange Audienz, bei der der Papst mir seinen Schmerz und seine Bestürzung über die Nazi-Verbrechen in Deutschland und den anderen besetzten Ländern ausdrückte: „Die Leute beklagen sich, dass der Papst nichts (dazu) sagt. Aber der Papst kann nicht reden! Wenn er spräche, würde alles nur schlimmer.“ Er erwähnte, dass er kürzlich drei Briefe verschickt habe, darunter einen an den, wie er sagte „heroischen Erzbischof von Krakau“, den künftigen Kardinal Sapieha, und die anderen an zwei weitere polnische Bischöfe; darin habe er diese Nazi-Verbrechen beklagt. „Sie haben mir gedankt, aber gleichzeitig geschrieben, dass sie diese Briefe nicht veröffentlichen können, weil das die Lage verschlimmern würde.“ Und er zitierte Pius X., der einmal angesichts irgendwelcher Gräueltaten in Russland gesagt habe: „Ihr müßt schweigen, um noch größere Übel zu verhindern.“ (…) Ich erinnere mich auch, dass er mir sagte: „Ja, es gibt auch eine kommunistische Gefahr, aber im Moment ist die Nazi-Gefahr schlimmer.“ Er sprach mit mir darüber, was die Nazis im Falle eines Sieges tun würden, und ich erinnere mich, dass er mir sagte: „Sie wollen die Kirche zerstören und sie wie ein Unkraut ausrupfen. Für den Papst wird in einem solchen neuen Europa kein Platz mehr sein. Sie sagen: Soll er doch nach Amerika gehen. Aber ich habe keine Angst, ich bleibe hier.“ (…)
Man kann historisch darüber diskutieren, ob es nicht besser gewesen wäre, mehr oder lauter zu reden – aber es ist außer Diskussion, dass Pius XII. nur aus Rücksicht auf die Verfolgten, nicht etwa aus Angst oder aus anderen Interessen heraus nicht lauter gesprochen hat. Es beeindruckte mich in diesem Gespräch, als er davon redete, was er alles für diese Unterdrückten tat… Er tat, was er nur konnte, mit der einzigen Sorge, bei der Aufgabe des Heiligen Stuhls zu bleiben und sich nicht in den politischen oder militärischen Bereich hineinziehen zu lassen. Als 1943 Rom von den Deutschen besetzt wurde, sagte mir Pius XII.: „Pater, nehmen Sie in der Gregoriana keine Militärs auf … wir müssen uns da heraushalten. Aber andere können Sie gerne aufnehmen: Zivilisten, verfolgte Juden.“ Tatsächlich habe ich einige aufgenommen. (…)
Pius XII. wollte nichts tun, was zu Reaktionen führen konnte, die die Lage noch verschlimmert hätten. Ich würde zwei verschiedene Fragen stellen: Hat er gut daran getan, zu schweigen, oder hätte er besser reden sollen? Darüber kann man historisch sicher diskutieren. Vielleicht hätte Pius XI., der ein anderer Charakter war, anders gehandelt – aber mir scheint offensichtlich, dass Pius XII. nu8r deswegen geschwiegen oder wenig gesagt hat, um die Lage nicht noch zu verschlimmern.Objektiv kann man sich streiten; subjektiv gibt es aber keinen Zweifel über die Motive des Papstes: Er wollte wirklich das Beste tun.“ (rv)