Amoris Laetitia: Kommentiertes Inhaltsverzeichnis

CNA_FranziskusWas den Aufbau des Dokumentes angeht, empfiehlt es sich, den Papst selber zu Wort kommen zu lassen, die direkten Zitate stammen alle aus AL 6: „Beim Aufbau des Textes werde ich mit einer von der Heiligen Schrift inspirierten Eröffnung beginnen, die ihm eine angemessene Einstimmung verleiht“. Der Papst meditiert zuerst Psalm 128, um im Licht des Wortes Gottes auf die Familie zu schauen. Schon dort wird die Vielgestaltigkeit und Vieldimensionalität des Themas deutlich.

Bodenhaftung

„Von da ausgehend werde ich die aktuelle Situation der Familien betrachten, um „Bodenhaftung“ zu bewahren“, so Papst Franziskus weiter: Nach einer Hinführung, weswegen die Betrachtung der Wirklichkeit entscheidend ist, schaut der Papst auf Situationen und Herausforderungen.

„Danach werde ich an einige Grundfragen der Lehre der Kirche über Ehe und Familie erinnern, um so zu den beiden zentralen Kapiteln zu führen, die der Liebe gewidmet sind“. Hier geht es zunächst um das, was die Kirche lehrt, aber immer auch um den Blick auf die geeignete Pastoral. Dann greift der Papst im ersten der beiden Zentral-Kapitel noch einmal auf die Bibel zurück, und zwar auf das Hohelied der Liebe im 1. Korintherbrief. Damit legt er die Liebe in all ihren Dimensionen aus, auch unter Zuhilfenahme von etwa Martin Luther King. Weil mit der Barmherzigkeit ein Schlüssel zum Verstehen der christlichen Botschaft gegeben ist, ist dieses Kapitel aber mehr als nur ein Sprechen über die Liebe, es handelt auch davon, mit welcher Haltung an die Themen von Ehe und Familie heran zu gehen hat. Über die Bibel hinaus geht es auch um das Altern, die Verliebtheit und um die erotische und die emotionale Seite der Liebe. Anschließend geht es um die Weitergabe des Lebens und um verantwortete Elternschaft.

Pastorale Wege

„In der Folge werde ich einige pastorale Wege vorzeichnen, die uns Orientierung geben sollen, um stabile und fruchtbare Familien nach Gottes Plan aufzubauen“, es geht um ganz Praktisches, aber auch um Reflexionen zur geistlichen Dimension der Feier der Trauung, zur Begleitung in Krisen und komplexen Situationen bis hin zur Frage des Todes eines geliebten Menschen.

„In einem weiteren Kapitel werde ich mich mit der Erziehung der Kinder beschäftigen,“ ein Thema, das bei den Synodenversammlungen kaum zur Sprache kam, das aber dem Papst sehr wichtig ist.

„Danach geht es mir darum, zur Barmherzigkeit und zur pastoralen Unterscheidung einzuladen angesichts von Situationen, die nicht gänzlich dem entsprechen, was der Herr uns aufträgt“. Hier werden diejenigen Themen angesprochen, die im Vorfeld und während des synodalen Prozesses für die meisten Kontroversen gesorgt haben, der Papst tut das unter der Überschrift ‚Begleiten, unterscheiden und eingliedern“.

„Und zum Schluss werde ich kurze Leitlinien für eine Spiritualität der Familie entwerfen,“ den Abschluss der Exhortation bildet ein Gebet. (rv)

Amoris Laetitia: Die sechs zentralen Punkte

Papst FranziskusIch „empfehle nicht, es hastig ganz durchzulesen“: Papst Franziskus legt dem schnellen Interesse Zügel an, gleich zu Beginn des Dokumentes Amoris Laetitia (7) erklärt er, warum der Text so umfangreich geworden ist, und warnt vor einem zu schnellen Suchen und Lesen. Um sich aber in diesem, wie der Papst sagt, umfangreichen Text orientieren zu können, geben wir hier einen Überblick über die wichtigsten Punkte der Apostolischen Exhortation.

1. Nicht immer nur Rom

„Nicht alle doktrinellen, moralischen oder pastoralen Diskussionen (müssen) durch ein lehramtliches Eingreifen entschieden werden“ (AL 3). Gleich zu Beginn gibt der Papst einen der Schlüssel für den Umgang mit der Wirklichkeit an: Lösungen kommen nicht ausschließlich ‚von oben’. Dahinter steht die Idee der Inkulturation, das heißt, vor Ort können Lösungen anders aussehen als im Nachbarland oder in einem anderen Kulturkreis, weil die Umstände andere sind.

2. Realismus

Es sind „Urteile zu vermeiden, welche die Komplexität der verschiedenen Situationen nicht berücksichtigen“. Dem Papst geht es um den Blick auf die Wirklichkeit, nicht auf das Ideal. Ohne Aufmerksamkeit für die Realität kann man weder die Bedürfnisse der Gegenwart noch den Ruf des Heiligen Geistes verstehen, heißt es im Text. Realismus helfe dabei, „ein allzu abstraktes theologisches Ideal der Ehe (…), das fast künstlich konstruiert und weit von der konkreten Situation und den tatsächlichen Möglichkeiten der realen Familien entfernt ist“, zu vermeiden (AL 36). Idealismus führt dazu, dass die Ehe nicht als das gesehen wird, was sie ist, nämlich ein „dynamischer Weg der Entwicklung und Verwirklichung“ (AL 37).

3. Es geht um Liebe

Das zentrale Kapitel – wie der Papst es bezeichnet – ist das Kapitel über die Liebe, wobei der Papst das Wort „amor“ benutzt, nicht das der Nächstenliebe nähere Wort „caritas“. Es geht um alle Aspekte der Liebe, von Verlässlichkeit und Hingabe über Leidenschaft und Erotik bis zum Wandel im Alter und zum Tod. Sexualität zum Beispiel wird „als eine Teilhabe an der Fülle des Lebens in seiner (Christi) Auferstehung erlebt“, es herrscht ein positiver Grundton vor. Der Papst betont, dass „im Wesen der ehelichen Liebe selbst die Öffnung auf die Endgültigkeit hin vorhanden ist“ (AL 123), und zwar in der ganzen Weite der Ehe, im „Miteinander von Wonnen und Mühen, von Spannungen und Erholung, von Leiden und Befreiung, von Befriedigung und Streben, von Missbehagen und Vergnügen“ (AL 126).

4. Eingliederung aller

„Es geht darum, alle einzugliedern; man muss jedem Einzelnen helfen, seinen eigenen Weg zu finden, an der kirchlichen Gemeinschaft teilzuhaben, damit er sich als Empfänger einer unverdienten, bedingungslosen und gegenleistungsfreien Barmherzigkeit empfindet“ (AL 297). Pastoral ist nicht einfach die Umsetzung von Regeln in die Praxis, sie muss vom Einzelnen in seiner jeweiligen Situation ausgehen. Die Perspektive dazu ist die, alle – dieses Wort betont der Papst – zu integrieren.

5. Das Gewissen

„Wir sind berufen, die Gewissen zu bilden, nicht aber dazu, den Anspruch zu erheben, sie zu ersetzen“ (AL 37). Zu einer Erwägung im Gewissen gehören der Blick auf die Lehren Christi und auf die Tradition der Kirche, zu leichte und zu harte Lösungen gleichermaßen sind Verrat an der konkreten Lebenssituation. Außerdem ist aber der Einzelne zu respektieren, im Gewissen ist er allein mit Gott. Das erklärt auch, weshalb das Dokument keine neuen Regeln vorgibt: „Wenn man die zahllosen Unterschiede der konkreten Situationen (…) berücksichtigt, kann man verstehen, dass man von der Synode oder von diesem Schreiben keine neue, auf alle Fälle anzuwendende generelle gesetzliche Regelung kanonischer Art erwarten durfte. Es ist nur möglich, eine neue Ermutigung auszudrücken zu einer verantwortungsvollen persönlichen und pastoralen Unterscheidung der je spezifischen Fälle“ (AL 300).

6. Wider das öffentliche Gezerre

„Die Debatten, wie sie in den Medien oder in Veröffentlichungen und auch unter kirchlichen Amtsträgern geführt werden, reichen von einem ungezügelten Verlangen, ohne ausreichende Reflexion oder Begründung alles zu verändern, bis zu der Einstellung, alles durch die Anwendung genereller Regelungen oder durch die Herleitung übertriebener Schlussfolgerungen aus einigen theologischen Überlegungen lösen zu wollen“ (AL 2). Dem Papst ist bewusst, was für einen Begleitlärm die Synode hatte, innerkirchlich und auch medial. Bereits in seinen beiden Abschlussreden hatte er das kritisiert, in Amoris Laetitia benennt er diesen Umstand noch einmal deutlich. Hinter der Kritik steckt auch eine Aufforderung: nicht hektisch zu lesen, nicht die Debatte zu überspitzen, sondern ruhig und betrachtend die einzelnen Themen und Teile des Textes durchzugehen. (rv)

Schönborn: „Es geht um die Freude an der Familie“

Kardinal SchönbornDer Wiener Kardinal Christoph Schönborn hat am Freitag das Nachsynodale Apostolische Schreiben „Amoris Laetitia“ von Papst Franziskus vorgestellt. Es ist der Schlusspunkt eines Prozesses, den Papst Franziskus mit einem Kardinalskonsistorium begonnen hat, darauf folgten zwei Versammlungen der Bischofssynode. Schönborn hat den gesamten Prozess begleitet, war Leiter des deutschsprachigen Zirkels bei der Synode. Mit unserem Redaktionsleiter Pater Bernd Hagenkord sprach Schönborn über das Schreiben von Franziskus und die Schlüsse, die man daraus ziehen kann.

RV: Kardinal Schönborn, Sie waren bei beiden Synoden dabei, haben das Dokument studiert, vorgestellt. Was ist das eine Ergebnis, das man über das Dokument und damit auch über den Ausgang des synodalen Prozesses wissen muss?

Schönborn: „Die Freude an der Familie, die Freude an der Ehe. Ein grundpositives Wort, ein grundpositives Dokument über die unaufgebbar und unzerstörbar positive Kraft von Ehe und Familie. Das ist glaube ich die Kernbotschaft. Es ist ein großes Ja zur Liebe, wie sie gelebt wird in Ehe und Familie. Und es ist ein großes Ja zur Hoffnung, dass dieses Ideal möglich ist, auch wenn es im Alltag über viele Schwierigkeiten und Mühen geht – aber noch wichtiger, das ist für mich die Kernbotschaft dieses Schreibens, ist die Freude daran.“

RV: Ich vermute, ich liege nicht ganz falsch, wenn ich sage, die meisten Menschen erwarten sich dann doch etwas anderes. Es sind ja viele Diskussionen geführt worden über wiederverheiratete Geschiedene und ihr Zugang zur Kommunion. Das ist glaube ich das Stichwort dafür, und dazu steht nichts im Dokument. Da wird es Enttäuschung geben. Was sagen Sie diesen Menschen?

Schönborn: „Lest das Dokument. Manche Enttäuschungen entstehen dadurch, dass wir auf einen bestimmten Punkt hinschauen und völlig fixiert sind und nicht das Wunderbare sehen, was rund herum ist. Und was eigentlich auch die Antwort auf diesen einen Punkt gibt. Ich denke, eine vor allem in unserem Sprachraum, aber auch unter vielen Theologen viel zu einseitig auf eine Frage hin konzentrierte Aufmerksamkeit bei diesen Synoden und jetzt bei diesem abschließenden Dokument des Papstes birgt in sich die Gefahr, dass man blind wird für den ganzen Reichtum des Themas. Ich denke, dem wollte Papst Franziskus entgegenwirken, indem er zuerst einmal von der Schönheit und Lebendigkeit von Ehe und Familie gesprochen hat. Ich kann nur daran erinnern und darum bitten, lest das Kapitel 2,3,4 und 5, die zentralen Kapitel des Textes. Ich weiß schon, die meisten stürzen sich sofort auf das 8. Kapitel.

Ich gestehe, ich habe auch gleich einmal dort hingeschaut, ja, das gebe ich zu. Weil das die kontroversen und diskutierten Themen sind. Aber das ist eine alte Regel für den Umgang mit Problemen. Man kann auch in eine Problemtrance geraten, indem man dann so fokussiert ist auf einen Punkt, dass man das Ganze nicht mehr sieht. Mir hat Papst Franziskus einmal in einem Gespräch gesagt: Es ist eine Falle – diese Verengung auf die Frage, ob sie zur Kommunion gehen dürfen oder nicht, ist eine Falle. Wir können gerne dann über das sprechen, was der Papst und die Synode dazu zu sagen haben, aber ich lade wirklich ganz herzlich dazu ein, lesen Sie besonders das 4. Kapitel über die Freude an der Liebe, wo Papst Franziskus das große Kapitel 13 des 1. Korintherbriefs auf Ehe und Familie hin auslegt. Und das ist die christliche Kernbotschaft. Natürlich muss man das ernst nehmen, diese Fragen stehen im Raum: ‚Wie steht das mit denen, deren Beziehung gescheitert ist?‘ Und Papst Franziskus macht klar: In gewisser Weise zeigt sich an diesen Fragen, wie weit es der Kirche gelingt, die Botschaft der Barmherzigkeit glaubwürdig zu leben. Und darum hat Papst Franziskus etwas gemacht, was die Synode bereits vorbereitet hat. Und was er sehr viel deutlicher herausarbeitet: Das sogenannte ‚discernimento‘, die Unterscheidung. Seine Einladung ist: Hinschauen, konkret auf die Lebenssituation der Betroffenen eingehen, sie begleiten. Und sehen, wo es Positives gibt, wo es gutes Bemühen gibt. Wo es Ansätze eines Wachstums, eines Fortschritts im Guten gibt. Und nicht von vorne herein nur zu urteilen, oder gar zu verurteilen.“

RV: Ist das das, was einige als geöffnete Tür in Richtung Reform oder Modernisierung bezeichnen würden?

Schönborn: „Ich glaube, diese Tür war nie geschlossen, aber manche haben sie so interpretiert, als wäre sie geschlossen. Es gab und gibt immer wieder die Versuchung, die Papst Franziskus ‚Bianco o nero‘, Schwarz oder Weiß nennt. Nach dem Motto: Es gibt nur zwei Möglichkeiten, alles oder nichts. Er als guter Jesuit ist bei Ignatius in die Schule gegangen. Der Heilige Ignatius führt in seinen Exerzitien dort hin, hinzuschauen und zu –horchen: Was ist der Wille Gottes in dieser Situation. Was sagt mir Gott in dieser konkreten Situation? Wie wirkt er? Wohin zieht er und führt er mich? Und deshalb sagt er ganz klar – das ist sicher ein Schlüsselsatz dieses Dokumentes – man darf weder von den beiden Synoden noch von diesem Dokument eine neue kirchenrechtliche Norm erwarten, die für alle Fälle passt.

Manche haben sich eine solche Norm erwartet, eine Art Generalregelung. Da hat er ein klares Nein gesagt. Fügt aber dann gleich hinzu: aber es geht um ein behutsames, aufmerksames Hinschauen und Begleiten in einzelnen Fällen. Das ist sehr viel anspruchsvoller. Er sagt ja auch, manche hätten am liebsten eine genaue Regel, die sie genau anwenden können. Da brauchen sie gar nicht hinzuschauen, wie es den Menschen wirklich geht. Auf der anderen Seite sagt er, manche machen es sich zu leicht, indem sie einfach überall Ausnahmen sehen und genehmigen und durchgehen lassen, ohne sich die Mühe zu machen, genauer hinzuschauen.

Und da darf ich schon mit einer gewissen Freude und Dankbarkeit sagen, dass unsere Arbeit im deutschsprachigen Zirkel bei der zweiten Synode vom Schlussdokument der Synode ganz übernommen worden ist. Und jetzt von Papst Franziskus noch einmal bestätigt, übernommen und vertieft worden ist. Nämlich Kriterien der Unterscheidung. Wie kommen wir als Seelsorger, aber auch als Betroffene zu einer wirklichen Gewissensentscheidung. Dazu braucht es Kriterien. Im deutschsprachigen Zirkel haben wir eine Reihe solcher Kriterien genannt. Die finden Sie jetzt auch im Schlussdokument des Heiligen Vaters. Damit die Seelsorger mit den Betroffenen gemeinsam einen Weg der Unterscheidung, der Umkehr, der Bekehrung und der Integration in das Leben der Kirche gehen.

Das ist ein Schlüsselwort wiederum des päpstlichen Schreibens: Integration. Nicht Exklusion, nicht Ausschluss, sondern Einschluss. Und wie dieser Einschluss aussehen kann, das ist nicht von vorne herein am ersten Tag schon alles klar auf dem Tisch. Dazu gibt es auch nicht eine Generalnorm, sondern das ist ein Weg. Und auf diesem Weg braucht es Etappen und auf diesen Weg muss man sich einlassen. Und ich nenne nur eine dieser Etappen, die vielleicht am meisten vergessene, aber für das Leben oft am schmerzlichsten spürbare, das ist die Frage an Menschen, die in neuen Partnerschaften leben, die eine Ehe verlassen haben oder deren Ehe zerbrochen ist, die Frage: ‚Wie seid ihr mit euren Kindern umgegangen?‘ Papst Franziskus hat darüber zwei wunderbare, rührende Katechesen gehalten. ‚Schaut auf die Kinder. Wie geht es den Kindern? Habt ihr euren Rosenkrieg, euren Konflikt auf dem Rücken eurer Kinder ausgetragen? Habt ihr sie zu Geiseln in eurer Feindschaft gemacht? Haben die Kinder das austragen müssen?‘ Das ist das erste Unterscheidungskriterium, das wir im deutschsprachigen Zirkel genannt haben, das jetzt im päpstlichen Dokument steht und dann eine ganze Reihe anderer Kriterien, an denen man messen kann, wo Menschen, deren Partnerschaft oder Ehe zerbrochen ist, die in einer neuen Beziehung leben, wo sie wirklich stehen.

RV: Das Dokument ist das Ende eines synodalen Prozesses, den Papst Franziskus mit einem Kardinalskonsistorium begonnen hat und dann zwei Versammlungen der Bischofssynode. Sie waren überall dabei, von Anfang bis zum Schluss. Wie bewerten Sie in der Rückschau diesen Prozess. War das ein Paradebeispiel für Synodalität? Oder war das eher noch eine Experimentierphase?

Schönborn: „Ich glaube Papst Franziskus hat hier etwas gezeigt, was zum Wesen der Kirche gehört: ihre Synodalität. Er hat das ja ausführlich dargelegt bei der Gedenkfeier 50 Jahre Bischofssynode am 17. Oktober 2015. Und er hat es mit einem spanischen Wort bezeichnet in Evangelii Gaudium: ‚primerear‘. Das kommt aus dem Argentinischen und bedeutet so viel wie ‚Prozesse in Gang setzen‘. Er hat ein ganz großes Vertrauen darauf, dass der Heilige Geist die Kirche leitet und dass das in einem Prozess geschieht, in Etappen. Darum wollte er erstens, dass es auf diesem Weg mehrere Etappen auf diesem Weg gibt, zweitens hat er immer wieder eingeladen zur offenen Diskussion. ‚Sprecht mit Freimut und hört mit Demut zu‘, hat er uns mehrmals gesagt.

Ich kenne kein postsynodales Schreiben seit es die Synode gibt, das so ausführlich die Arbeit der Bischöfe, der Synodenväter integriert hat wie dieses Dokument. Und immer wieder sagt Papst Franziskus in seinem Schreiben: Ich mache mir zu eigen, was die Synodenväter gesagt haben. Die Synodenväter haben Folgendes beraten und mir vorgeschlafen und ich nehme es auf und an. Das ist ein gelebter synodaler Prozess, in dem der Papst ganz klar seine Rolle spielt. Er hat das letzte Wort, er hat das Wort des obersten Hirten. Aber er spricht dieses Wort im Hören auf das, was in der Kirche sich getan hat und von der Kirche gesagt worden ist.“ (rv)

Synode: Was ist nun mit den wiederverheiratet Geschiedenen?

Bischofssynode„Nach der Liebe, die uns mit Gott vereint, ist die eheliche Liebe die größte Freundschaft“ (AL 123): Der lange erwartete Text ist veröffentlicht, mit Amoris Laetitia legt der Papst seine eigenen Gedanken zum Thema Familie vor. Und alle wollen jetzt nur das eine wissen: wie verhält es sich nun mit Wiederverheirateten Geschiedenen und der Kommunion? Pater Bernd Hagenkord hat genau nachgesehen.

Die Versuchung ist groß, den gesamten Text oder auch nur Kapitel acht nach Hinweisen durchzulesen, wie es sich denn nun mit der so dominanten Frage während des synodalen Prozessen verhält, aber schon der Autor warnt ausdrücklich davor: „Darum empfehle ich nicht, es hastig ganz durchzulesen“ (AL 6), vermutlich um genau das zu vermeiden, nämlich die Suche nach dem Eigenen im Fremden.

Trotzdem ist das eine Frage, um die die öffentliche und innerkirchliche Debatte nicht herum kommt. Wenden wir uns dieser Frage also in einem eigenen Abschnitt zu, um uns dann hoffentlich auch auf dem ganzen Text angemessen zuwenden zu können.

Keine Entscheidung

Vorweg: der Papst trifft keine Entscheidung. Wer vermutet, verlangt oder erwartet hatte, dass dieses Problem nun final und römisch gelöst werde, der wird nicht fündig werden.

Heißt das also, dass nach zwei Jahren Debatte der synodale Prozess als Tiger gesprungen und als Vorleger gelandet ist? Ganz und gar nicht. Mit den Anregungen von Kardinal Walter Kasper, der das Thema ja mit Einwilligung des Papstes in die Debatte eingebracht hatte, war das Thema auf dem Schirm. Das heißt aber nicht, dass sich die nun vorgelegten Gedanken nach zwei Jahren exakt auf dieses Thema beziehen lassen oder sogar eine definitive Antwort darauf geben.

Trotzdem kann man beim Papst ein Vorgehen lernen, das uns in dieser Frage weiter bringt.

Erstens: man muss Urteile vermeiden, die Einzelsituationen nicht berücksichtigen. So steigt der Papst ein. Also: die Realität ist zu komplex, als das man sie über einen Kamm scheren kann. Oder direkt zitiert „Wir wissen, dass es keine Patentrezepte gibt.“

Es gibt weder von der Synode noch von ihm neue, auf alle Fälle anzuwendende generelle gesetzliche Regelungen. Und zwar, weil es die gar nicht geben kann.

Im Gewissen allein mit Gott

Zweitens: eine Norm kann in unterschiedlichen Situationen unterschiedliche Ergebnisse haben. Wir dürfen uns also von der einen Lehre nicht nur ein Ergebnis im Leben erwarten, die Ergebnisse sind so unterschiedlich, wie es die Leben auch sind.

Das Gewissen, also die Mitte und das Heiligtum des Menschen, wo er alleine ist mit Gott, wie der Papst sagt, ist der Ort für die Unterscheidung. Ein gebildetes Gewissen, also eines um das man sich gekümmert hat und das nicht nur Wunsch und Wille ist. Dieses Gewissen ist kein Erfüllungsgehilfe. Wenn wir also das eben Gesagte anwenden bedeutet das, dass nicht schon vorher klar ist, was bei einer solchen Unterscheidung heraus kommen muss. Das Gewissen ist keine Entscheidungsmaschine. „Die Situation ist kirchlich gesehen so, also kann das Gewissen gar nicht anders als ….“ Dieser Schluss gilt nicht.

Der Papst geht noch einen Schritt weiter: Wir können im Gewissen auch erkennen, dass eine Antwort vorerst die einzige ist, die wir in einer bestimmten Situation geben können, auch wenn diese Antwort nicht dem Ideal entspricht. Soll heißen: Auch wenn die Aussagen Jesu klar und deutlich sind und bleiben, gibt es eine graduelle Verwirklichung. Es gibt Lebenssituationen, in denen es nicht die perfekte, saubere, lehrmäßig eindeutige Lösung geben kann oder mag.

Noch einmal: es ist „kleinlich“, wie der Papst sagt, das Handeln nur an der Norm zu messen.

Nicht das Leben an der Norm messen

Drittens: Was der Papst nicht macht, ist einen Weg anzubieten. Das ist ja mit dem Vorschlag von Kardinal Walter Kasper im Vorfeld, eigentlich seit Beginn des synodalen Weges debattiert worden. Das findet sich hier nicht. Das „Wie“ der Unterscheidung bleibt offen. Der Papst stellt nur die Grundsätze fest, nach denen so eine Unterscheidung laufen soll. Was heißt „nur“, er verlangt den Blick auf die Einzelsituationen, auf das konkrete menschliche Leben. Auf der anderen Seite spricht er lange vorher schon und über weite Strecken – und auch nachher zum Abschluss – über das, was Jesus uns für unsere Leben aufgetragen und versprochen hat. Die Unterscheidung, auch wenn sie nicht beim Ideal ankommt, verdunkelt dieses nicht.

Und wie immer bei Papst Franziskus: mit Leben füllen muss das nun jeder Christ und jede Christin, jede einzelne Gemeinde. Franziskus wäre nicht Franziskus, wenn es anders wäre.

Wer nun die wichtigsten Stellen selber nachlesen möchte, dem empfehle ich die beiden Abschnitte ‚Die Normen und die Unterscheidung‘ und ‚Die Logik der pastoralen Barmherzigkeit‘ (AL 304-312). (rv)