Ägypten: Arabischer Frühling – ein Mythos?

ÄgyptenWie die Zukunft Ägyptens aussieht, weiß in diesem Moment niemand – noch nicht einmal Präsident Mursi. Dies sagte der koptisch-katholische Bischof Youhanna Golta am Wochenende im Gespräch mit dem vatikanischen Fidesdienst. Die Welle der Gewalt in Ägypten hält jedenfalls weiter an: Auch an diesem Montag kam es in der Nähe des Tahrir-Platzes wieder zu Auseinandersetzungen. Dies ist nun schon der fünfte Tag der Straßenschlachten. Über drei ägyptische Provinzen hat Mursi deshalb den Ausnahmezustand verhängt; an diesem Montag will er sich zu Gesprächen mit allen politischen Führern treffen.

Zwei Jahre und ein paar Tage ist es nun her, seit der so genannte „arabische Frühling“ in Ägypten begann. Doch wurden die Ziele von damals erreicht? Hossam Badrawi, der frühere Generalsekretär von Mubaraks Partei, sagte dazu jetzt im Gespräch mit Radio Vatikan:

„Hunderttausende Menschen versammeln sich auf dem Tahrir-Platz. Er ist voller Leute, die gegen die Unterdrückung demonstrieren und erneut Freiheit und Demokratie fordern – das sind genau die Werte, auf die sie durch die Revolution gehofft haben. Jetzt sind sie enttäuscht darüber, wie die Dinge wirklich gelaufen sind!“

Badrawi ist eigentlich Physiker. 2011 war er für nur eine Woche Generalsekretär der Mubarak-Staatspartei NDP, als Nachfolger von Mubaraks Sohn Gamal. Einen Tag nach Badrawis Rücktritt von diesem Amt stürzte auch Präsident Mubarak.

Nach Ansicht von Bischof Golta könnte in Ägypten sogar erneut der Alptraum eines Bürgerkrieges auftauchen, wenn die Regierung und die Muslimbrüder versuchen sollten, die aktuellen Proteste zu unterdrücken. Dem Fidesdienst sagte der koptisch-katholische Bischof: „Ich mag meine muslimischen Brüder und Schwestern. Ich habe der Islamistik auch mein Studium und meine Doktorarbeit gewidmet. Doch für uns alle ist die Frage offen, ob wir uns auf dem Weg zu einem fanatischen oder einem zivilen Land befinden“. Er erinnerte vor diesem Hintergrund daran, dass die Muslimbrüder und die Salafisten eine stark islamisch geprägte Verfassung für Ägypten durchgesetzt haben. Auch der ehemalige Mubarak-Berater Badrawi, der damals noch gehofft hatte, durch die Revolution könne es besser werden, sagt nun:

„Jahrelang haben wir für die Rechte der Frauen gekämpft. Es hat überhaupt keinen Sinn, dass jetzt diese Rechte wieder reduziert werden, dass die Kopten ausgegrenzt werden und man hier einen religiösen Staat schaffen will. Wir hören mittlerweile schon davon, dass neunjährige Mädchen verheiratet werden sollen oder die weibliche Beschneidung wieder eingeführt werden soll, weil Gesetze, die das verbieten, nicht islamisch seien. Dabei hat so was doch absolut nichts mit Religion zu tun!“

In den vergangenen Tagen haben sich christliche Vertreter aus dem so genannten „nationalen Dialog“ zurückgezogen; mit diesem Dialog versucht Präsident Mursi, die Kontakte zu den sozialen Komponenten und der Opposition wieder herzustellen. Bischof Golta erklärte dazu, damit es einen Dialog geben könne, müsse man auch die Argumente der Gegenseite hören.

Von der Hoffnung, die der „arabische Frühling“ vor zwei Jahren mit sich brachte, ist aktuell kaum noch etwas zu spüren, sagt Mubaraks früherer Gefolgsmann Badrawi. Unter Mursi und den Muslimbrüdern wehe ein strenger Wind.

„Der arabische Frühling ist ein Mythos. Jede Revolution, die Freiheit und Demokratie will, inspiriert, besonders dann, wenn junge Leute dahinter stehen. Aber wenn so wie in Ägypten eine solche Revolution ohne Führung und Ziele erfolgt, dann übernimmt am Ende eine organisierte Mehrheit die Macht. Und das ist ein Schritt zurück. Dann wird es noch schlimmer!“

Bischof Golta wünscht sich eine neue Sicht der Beziehungen zwischen Politik und Religion. „Wer religiös sein will, darf keinen Anspruch darauf haben, die Menschen per Gesetz zum Gebet, zum Verzicht auf Alkohol oder zu einer bestimmten religiösen Praxis zu zwingen. In den arabischen Ländern wird es nur durch die Trennung von Religion und Politik Demokratie geben können“.
(rv)

Patriarch Scola: „Arabischer Frühling ist eine Herausforderung“

Der „arabische Frühling" ist insbesondere für die Christen in den entsprechenden Ländern eine besondere Herausforderung. Das betonte der Patriarch von Venedig, Kardinal Angelo Scola, zum Abschluss einer Konferenz in der Lagunenstadt. Die Stiftung „Oasis" organisierte bis zu diesem Mittwoch ein Treffen, bei dem es um die interreligiösen Konsequenzen der Umbrüche in den arabischen Ländern ging.

„Wir haben bei dieser Konferenz in der Tat viel über die Rolle und Zukunft der Christen in den arabischen Ländern gesprochen. Dabei stellte sich heraus, dass es auch in islamisch geprägten Ländern wichtig ist, die Trennung von Staat und Religion klar und öffentlich zu erläutern. Hierbei denken zwar viele an das Stichwort „Laizität" oder „laizistischer Staat". Wir sollten stattdessen von Bürgerrechten sprechen. Das scheint mir angebrachter zu sein. Das müssten wir auch hier im Westen machen."

Bei der Tagung in Venedig nahmen zahlreiche Bischöfe aus den arabischen Ländern teil. Darunter war auch der Erzbischof von Algier, Henri Tessier. Er plädierte für eine Zusammenarbeit der Christen und Muslime, um aus den Umbrüchen „eine positive Wendung" hervorzurufen.

„Das Hauptproblem für die meisten arabischen Länder ist der Systemwechsel. Es geht darum, dass die Personen, die die politische Wende führen sollten, dürfen nicht dieselben sein, die seit Jahrzehnten an der Macht sind oder mit den Machthabern zusammengearbeitet haben. Ein Land wie Algerien braucht vor allem die Respektierung der freien Meinungsäußerung sowie eine wahre Religionsfreiheit. Damit wäre schon viel getan."

Hintergrund
Die Stiftung „Oasis" hat ihren Sitz in Venedig. Sie wurde im September 2004 auf Anregung von Kardinal Angelo Scola mit dem Anliegen gegründet, Menschen der Kirche und der Wissenschaft zusammenzubringen und Wege zu entwickeln, die den Dialog und das Zusammenleben von Christen und Muslimen fördern. (rv)