Der philippinische Kardinal und Synodenvater Luis Antonio Tagle wünscht sich einen „seelsorgerlichen Blick“ der Kirche auf die Familie, egal ob sie leidet oder freudig voranschreitet. Einen Gegensatz zwischen Barmherzigkeit und Wahrheit, wie manche Synodenväter ihn zeichnen, kann der Erzbischof von Manila nicht sehen. Kardinal Tagle unterstützt den Papst als einer von vier „delegierten Präsidenten“ wie schon 2014 bei der Durchführung der Synode und gilt als engster Papst-Vertrauter aus Asien. Im Gespräch mit Radio Vatikan sagte er:
„Barmherzigkeit, Gerechtigkeit und Mitleid sind in Gott vereint! Nur wir sterblichen Menschen, Geschöpfe mit einem Geist, der nicht alle Dinge vereinen kann, wir unterschieden das, um es uns selbst zu erklären. Aber wir müssen vorsichtig sein, denn in Gott und in den Augen des Glaubens gibt es keinen Gegensatz zwischen Barmherzigkeit und Gerechtigkeit. Ich als Hirte und als Glaubender brauche die Barmherzigkeit Gottes, und nicht nur Gottes, sondern vieler Menschen. Für mich ist das Gebet ‚Herr, erbarme dich!‘ zugleich ein Schrei: ‚Gott, sei gerecht mit mir!‘ Die wahre Gerechtigkeit finden wir nur in einem barmherzigen Gott.“
Letztes Jahr empfing Kardinal Tagle Papst Franziskus zu Besuch auf den Philippinen. Als Erzbischof von Manila versucht Tagle die Empfehlung des Papstes an die Priester und Bischöfe zu verwirklichen, das Volk aufzusuchen und mit den Menschen sich zu freuen und zu leiden. Das gilt auch für verletzte Familien. Das Um und Auf sieht Tagle in der persönlichen Begegnung mit den ihm anvertrauten Menschen.
„Persönliche Begegnung heißt nicht bloß körperliche Anwesenheit, sondern eine besondere Aufmerksamkeit mit den Augen des Glaubens und den Augen des Guten Samariters: die Augen von Jesus, dem Hirten. Das sind die Augen eines Bruders, der die Freuden und Leiden, die Träume und auch die Frustrationen der Geschwister teilt. Wie der Heilige Paulus sagte: ich bin alles für alle geworden. Wenn die Herde sich freut, dann wird das Herz des Hirten mit Empathie und freudigem Mitempfinden wissen, wie es sich mitfreut. Und dann gibt es die Aufmerksamkeit für die Wunden. Da muss man die Präsenz eines Gottes zeigen, der alle liebt, nicht nur die, die würdig sind: denn wer wäre der Liebe des Herrn überhaupt würdig? Das ist der Blick des Guten Samariters, ein seelsorgerlicher Blick.“
Die Philippinen sind – neben dem kleinen Osttimor – das einzige katholische Land Asiens. Armut, Mangel an Arbeit sowie Migration stellen die Familien dort auf eine harte Probe. „Aber in meiner Erfahrung lehren uns die armen Familien, wie man in der Hoffnung lebt“, so Kardinal Tagle. Mit Blick auf die Synode – für den erst 57 Jahre alten Kardinal ist es bereits die sechste – warnte er davor, Diversität als Anlass für Spaltung zu sehen.
„Es ist normal, dass es in jeder Synode verschiedene Beiträge gibt, denn die Teilnehmer kommen aus einer komplexen Diversität von Kulturen, Traditionen und Sprachen. Ich bin nicht nervös über diese Diversität, aber wir alle müssen in jeder Synode, auch in dieser, aufmerksam überprüfen, ob die Diversität nicht als Grund der Spaltung benutzt wird, statt ein Reichtum zu sein. Sie ist eine Gelegenheit, einen weiteren Horizont zu haben, um die Lehre, die Tradition, das Wort Jesu im Kontext der menschlichen Existenz zu verstehen.“
Kardinal Tagle wirkt seit diesem Frühjahr auch als Präsident von Caritas Internationalis, dem im Vatikan angesiedelten Dachverband der gut 160 nationalen Caritas-Einrichtungen der katholischen Kirche. In dieser Eigenschaft besuchte Tagle am Montag das griechische Flüchtlingslager Idomeni an der Grenze zu Mazedonien. „Welches Leid, welches Elend in diesen Lagern“, berichtete Tagle. „Die Leute haben nichts, nur das Wertvollste: die Familie, die Kinder. Ich habe diese müden Kinder gesehen, die schlafen wollten und Trost auf den Schultern der Mutter oder des Vaters gefunden haben. Und in all dem Elend des Lagers, in all dem Leid und der Demütigung, gibt es die Liebe.“ (rv)