Die Stellungnahmen der Glaubenskongregation zur Befreiungstheologie sind keineswegs so ablehnend gewesen wie oft dargestellt. Das betont der peruanischen Theologe Gustavo Gutierrez am Mittwoch im Interview mit der Vatikanzeitung. Der Mitbegründer der Befreiungstheologie trifft diese Woche den Papst. Es ist das erste Mal, dass der „Osservatore Romano" ein Gespräch mit einem führenden Vertreter dieser Theologierichtung abdruckt. (rv)
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Boff: „Die Schattenseite der Kirche gehört zu uns, macht uns aber nicht aus!“
Wenn ein Befreiungstheologe dieser Tage durch Österreich und Deutschland reist, dann begegnet ihm in der Diskussion um Befreiung und Neubeginn auch immer wieder die Missbrauchsdebatte. Das hat Leonardo Boff vergangene Woche erfahren, bei seinen Stationen an der Universität Innsbruck und im Franziskanerkloster von Großkrotzenburg. Von der gegenwärtigen Situation der Befreiungstheologie in Lateinamerika, etwa dem entschlossenen Kampf brasilianischer Christen um den Erhalt des Amazonasgebietes, hat er seinen Zuhörern berichtet – und auf der anderen Seite ein offenes Ohr für die Anliegen der Menschen vor Ort aus ihrem eigenen Kontext heraus gehabt. Ein Stimmungsbild zeichnet der Befreiungstheologe dementsprechend so:
„Die Christen sind etwas perplex, weil sie sehen, dass die Kirche in eine moralische Krise geraten ist – dass die pädophilen Priester ein Skandal sind. Viele leiden darunter. Aber das ist kein Grund für mich, dass sie aus der Kirche austreten, denn diese Schattenseite der Kirche ist nun mal möglich und gehört zu uns. Das ist unsere Kirche! Jede Person hat eine Schattenseite und muss sich selbst damit auseinandersetzen und das überwinden. Dasselbe müssen wir mit der Kirche tun."
Jede Person, die gesund sei, könne schließlich krank werden, vergleicht Boff. Aber die Krankheit sei eben nicht Kern der Kirche – ihr Kern sei vielmehr das Evangelium. Nichts desto trotz müsse die Kirche demütig anerkennen, dass auch innerhalb ihrer eigenen Reihen Sünden und Fehler geschähen, die korrigiert werden müssten.
„Der Kirche muss meiner Ansicht nach geholfen werden, damit sie ihre Aufgabe und Funktion in der Welt weiterführen kann. Es wäre sehr schade, wenn die Kirche wegen dieser kritischen Situation herabgewürdigt oder ihre heilige Existenz als Vertreterin des Erbes Jesu in Frage gestellt werden würde. Deshalb muss sich die Kirche ihre Fehler eingestehen und transparent machen und um Verzeihung bitten. Und sich auch von Laien, von Fachmännern, wie Psychologen und anderen Experten, die verstehen, was da passiert ist, helfen lassen – um das künftig zu vermeiden, mit Maßnahmen, die solche Fälle schon im Vorfeld verhindern können."
Auch in Brasilien, im Nordosten des Landes, seien zwei Fälle sexuellen Missbrauchs in der Kirche bekannt geworden. Das sei aber, anders als in Deutschland oder Österreich, nicht als Phänomen der Kirche betrachtet worden, erklärt der Befreiungstheologe. Grundsätzlich seien die Kirchengemeinden in Lateinamerika und Europa unterschiedlich strukturiert, möglicherweise sei das Beispiel Lateinamerikas in der aktuellen Situation genauer zu überdenken:
„In meinen Augen sind die Priester, die Pfarrer und Ordensleute, sehr stark in das Volk integriert. Sie leben nicht distanziert vom Volk oder alleine in ihren Pfarreien oder Klöstern. Und dieser Umgang mit dem Volk macht die Integration von Beziehungen leichter. Sie werden menschlicher. Die Priester fühlen sich geliebt und leben auch tatsächlich diese Perspektive der Liebe, jenseits der sexuellen Komponente. Das macht auch das Zölibat leichter. Weil die Einsamkeit, die so schädlich ist, nicht so sehr zu spüren ist. Das ist vielleicht auch ein Grund dafür, dass es bei uns weniger Probleme auf diesem Gebiet gab." (rv)