Dass sich Kardinal Gerhard Müller mit Dietrich Bonhoeffer auskennt, liegt an seinem Lehrer, Kardinal Karl Lehmann. Ein Referat am Anfang seines Studiums führte den heutigen Präfekten der Glaubenskongregation zu einem der bedeutendsten Märtyrer der evangelischen Kirche, er befasste sich damals mit dem Sakramentsverständnis Bonhoeffers. Aus der Seminararbeit wurde später eine Diplomarbeit und aus dieser schließlich eine Doktorarbeit. 70 Jahre nach der Hinrichtung Bonhoeffers ehrt Kardinal Müller den protestantischen Theologen und Nazigegner in einem Vortrag in Rom als standhaften Glaubenszeugen und christlichen Märtyrer.
Nicht nur für Protestanten ist Bonhoeffer ein Begriff. Bekannt geworden ist Bonhoeffer vor allem durch seine eindrucksvollen Texte, die er während seinem Aufenthalt im Konzentrationslager kurz vor seiner Hinrichtung geschrieben hat. Ökumenische Fundstücke, die auch im katholischen Gotteslob einen festen Platz haben. Doch dabei darf es nicht bleiben, erläutert Müller: „In vielen Gemeinden ist Bonhoeffer präsent durch bestimmte Lieder und Texte, aber es ist auch die Frage, wie weit er dann in die ökumenische Theologie dann als solche auch eingeht, hier konnte er ja nur in seiner kurzen Lebenszeit einige Impulse geben."
Müller sieht auch für heute ein enormes Potential in Bonhoeffers Theologie. Gerade seine Verhältnisbestimmung von Kirche und Staat in einer säkularisierten Welt sind für Müller wichtige Impulse, auch für die heutige Zeit. Für die Ökumene ist Bonhoeffer nicht zuletzt auch wegen seines engen Kontakts zum Katholizismus und zur katholischen Theologie von Bedeutung. Während seiner Verfolgung in der Nazizeit fand er Unterschlupf im Kloster Ettal. Nach seinem Abitur einige Jahre zuvor verbrachte er sogar eine Zeit in Rom. Für einen Protestanten, der aus einem katholisch feindlichen Umfeld kam, eine positive Erfahrung, weiß Müller. „Er sagt ja dann, […] dass er hier zum ersten Mal erkannt und erlebt hat, was Kirche ist, denn aus seinem evangelischen Hintergrund ist Kirche ja nicht so anschaulich gelebt. Das hier Jung und Alt, aber das eben gebildete und nicht gebildete Menschen zusammen sind und beten, dass hat ihn sehr beeindruckt."
Bonhoeffer erlebte, dass in Rom viele zur Beichte gehen – das Sündenbekenntnis und die Gottesbegegnung über die Verkündigung hinaus. Das beeindruckte ihn laut Müller so sehr, dass Bonhoeffer versuchte die Beichte im evangelischen Sinne wieder in die religiöse Praxis zu integrieren. Der lutherische Theologe ist für Müller einer der Weichensteller der ökumenischen Bewegung, von katholischer Seite anschlussfähiger als so manch anderer lutherischer Theologe. Das liegt nicht zuletzt daran, dass Bonhoeffer nicht nur Theologe sondern auch Praktiker war, erklärt Müller:
„Er hat ganz bewusst den Schritt über das akademische hinaus gemacht zur Praxis hin. Nicht nur die Theorie umgesetzt, sondern die innere Einheit vom Bezug zu Gott im theologischen Denken im Gebet, aber eben auch in der konkreten Begegnung mit den Menschen, Mitgläubigen in der Gemeinde, aber auch denen, die distanziert sind zur Kirche. Diesen konkreten Schritt vom Theoretischen zum Praktischen – im weiteren Sinne des Wortes – den hat er getan und dieser ist für ihn auch maßgebend geworden."
Der Schritt zeigt sich auch im Umgang mit etwa der Armut, Müller bezog sich auf Bonhoeffers Begriff des „religionslosen Christentums". Was das heißt?: „Dass wir nun irgendwie schön singen und pietistisch unsere Seelen pflegen und schöne wunderbare Gefühle haben, während wir neben dran die massenhafte Armut und das Elend sehen. Das kann man eben nicht voneinander trennen. Christus in seinem Wort und seiner Verkündigung, wie er auch in den Sakramenten zu uns spricht, ist der Christus, der uns auch in den Armen begegnet. Deshalb ist es wichtig zu sagen, Christentum ist nicht nur am Sonntag in der Feierlichkeit der Kirche, des Ritus und der Musik, in den Zeremonien." In dieser Bonhoefferischen Theologie zeigt sich seine Aktualität, die auch Papst Franziskus verkündet. Der Glaube an Gott und die Begegnung mit Jesus stehen im Mittelpunkt, nicht als Selbstzweck, sondern zur Begegnung mit den Menschen. (rv)