In wie vielen Haushalten im deutschen Sprachraum steht eine Bibel? Eine zulässige Frage im Lutherjahr – beantworten kann sie niemand. Eines aber lässt sich aus vatikanischer Sicht sagen: Jedes Exemplar der Bibel, in welcher Sprache und wo immer es steht, hat eine unsichtbare Verbindung in den Vatikan. Dort nämlich wird mit dem „Codex Vaticanus“ die Bibelhandschrift aufbewahrt, die als Vorlage schlechthin für alle gedruckten Bibeln gleich welcher Sprache gelten muss. Gudrun Sailer hat sich den „Codex Vaticanus“ in der päpstlichen Bibliothek angesehen und mit der dort tätigen österreichischen Historikerin Christine Maria Grafinger über die Bibelhandschriften des Vatikans gesprochen – mehrere Hundert an der Zahl.
Der größte Schatz der Vaticana: der „Codex Vaticanus“
Der „Codex Vaticanus“ ist zweifellos der kostbarste religiöse Schatz der päpstlichen Bibliothek. „Die wichtigste Bibelhandschrift für die Bibeldrucke“, erläutert Christine Grafinger. Dabei sieht der Codex schlicht aus: griechische Großbuchstaben auf feinem Pergament, keine einzige Malerei auf den 733 Doppelseiten. Der Ort der Entstehung ist ungewiss: Rom, Süditalien oder Caesarea in Palästina kommen in Frage. Zwei Kopisten jedenfalls waren es, die die Abschrift des Alten und Neuen Testaments anfertigten.
„Unser Codex Vaticanus ist im 4. Jahrhundert entstanden, und wir haben den vollständigen Text des Alten und Neuen Testaments in griechischen Grußbuchstabenschrift hier im Codex Vaticanus. Eine ganz berühmte Handschrift. …. Es wurden verschiedene Bibel-Texte herausgegeben, sobald der Buchdruck erfunden war, und die Vorlage ist immer der Vatikankodex. Miniaturen hat er zwar keine, aber schon die Schrift allein ist ein Kunstwerk!“
Die von Katholiken, Orthodoxen und Protestanten anerkannte Grundlage für das Neue Testament ist die des Vatikans
Der „Codex Vaticanus“ hat einen Zwillingsbruder, den „Codex Sinaiticus“, der aufgeteilt auf drei Teile im Katherinenkloster am Sinai, in London und in Leipzig liegt. Beide Manuskripte wurden von derselben älteren Stammhandschrift abgeschrieben. Die von Katholiken, Orthodoxen und Protestanten anerkannte Grundlage für das Neue Testament ist aber die des Vatikans.
Die Heilige Schrift zu bewahren und zu überliefern, ist der älteste Auftrag der vatikanischen Bibliothek. Schon die ersten Generationen der römischen Christen begannen mit dem Sammeln von Handschriften. Diese Bestände gingen verloren. Die heutige vatikanische Bibliothek entstand an der Schwelle zur Neuzeit, Papst Nikolaus V. rief sie um 1450 ins Leben. Dabei schwebte ihm keineswegs eine rein religiöse und juristische Sammlung vor. Vielmehr schuf der gebildete Papst eine Universalbibliothek, in der weder die klassische Literatur noch Disziplinen wie Medizin, Astronomie und Mathematik fehlten. Überdies öffnete der Humanistenpapst seine Büchersammlung auch externen Lesern und schuf dazu drei Räume in einem neuen Flügel des Vatikanpalastes.
Sammler, Gönner, Gelehrte… und immer ältere Bibelhandschriften im Vatikan
Bereits im Inventar von 1475 scheint der „Codex Vaticanus“ auf. „Er blieb bis 1968 die älteste Bibelhandschrift im Vatikan“, erklärt Christine Grafinger. „Dann schenkte der Schweizer Sammler Martin Bodmer Papst Paul VI., als dieser Genf besuchte, zwei vollständige Petrusbriefe auf Papyrus, geschrieben zwischen 180 und 200 in Ägypten, wohl bei Theben. Das war über Jahrzehnte die älteste Handschrift im Vatikan – doch seit etlichen Jahren geht es noch weiter zurück, noch näher heran an die Zeit Jesu. Martin Bodmer starb 1971. Die von ihm eingesetzte Stiftung verkaufte 2007 einen Papyrus aus derselben Quelle wie die beiden Petrusbriefe an den US-Geschäftsmann Frank J. Hanna, der ihn seinerseits Papst Benedikt XVI. und damit der Vatikanischen Bibliothek schenkte. Diese Handschrift („Bodmer Papyri P75“) enthält Teile des Lukas- und des Johannesevangeliums. Sie ist das älteste bekannte Zeugnis dieser beiden Evangelientexte überhaupt. „Das sind nur so einzelne Stücke“, sagt Grafinger, „und in einem dieser Stücke ist – in der 6. Zeile – die älteste Version vom Vater unser zu finden.“
„Es geht in die Hunderte mit den Bibelhandschriften an der Vaticana“, referiert die Historikerin. „Wir haben in allen Beständen Bibelhandschriften, sowohl in den lateinischen und griechischen und orientalischen wie auch hebräischen Sammlungen. Und dann ganz frühe Bibeldrucke, unter den Inkunabeln.“
Einzigartiges Prunkstück: Das Lorscher Evangeliar von Karl dem Großen
Ein Prunkexemplar der Vatikan-Bibliothek, das besonders auf den deutschen Raum abstrahlte, ist das Lorscher Evangeliar, das um 810 in Aachen am Kaiserhof entstand und wenig später zu den Benediktinern ins nahegelegene Lorsch gelangte.
„Lorsch war ein bedeutendes Kloster zur Zeit Karls des Großen, und dieses Evangeliar ist in Aachen am Hof Karls des Großen bei seiner Bibelreform entstanden und war das Musterexemplar für alle Bibelabschriften in der Karolingerzeit. Es wurde dann dem Kloster in Lorsch gegeben und ist eine ausgesprochene Prachthandschrift. Der Großteil des Textes in Gold ist in Goldtinte geschrieben.“ Wegweisend war das opulente Manuskript auch für die Buchmalerei. Es gelangte 1623 als Teil der berühmten Bibliotheca Palatina aus Heidelberg in den Vatikan.
Kardinal statt Eremit: Ein neues Kirchenbild kündigt sich an
1430, also am Übergang zwischen Mittelalter und Neuzeit, entstand die prachtvolle Bibel des Herzogs von Este: „Dieses Evangeliar ist wichtig, denn es ist nicht in Latein oder Griechisch geschrieben, wie das ganze Mittelalter über die Bibeln überliefert worden sind, sondern in Altfranzösisch. Eine Zusammenstellung von Bibeltexten aus dem Alten und Neuen Testament.“ Besonders schön darin: eine Darstellung des antiken Kirchenvaters Hieronymus, der Ende des 4. Jahrhunderts die für lange Zeit maßgebliche Übersetzung der Bibel ins Lateinische anfertigte, die sogenannte Vulgata. Auf Gemälden wird Hieronymus gerne als dürrer Eremit in öder Landschaft gemalt, häufig in Gesellschaft eines Löwen, auch Leonardo da Vinci stellte den Kirchenvater in einem berühmten Bild in den Vatikanischen Museen so dar. Anders die Darstellung in der Bibel des Herzogs von Este. Der gezähmte Löwe sitzt zwar auch hier zu Füßen des Heiligen, doch „darüber ist eine Darstellung des Hieronymus in seinem Kardinalsgewand, und daneben hält ein Priester den Kardinalshut.“ Ein Kirchenvater, etwas gegen den ikonographischen Strich gebürstet: Kardinal statt Eremit. Hier scheint sich 1430 bereits ein neues Selbstverständnis von Kirche anzukündigen.
Die meisten ihrer Bibelhandschriften, aber nicht alle, verwahrt die Vatikan-Bibliothek in der Reserve, das heißt im gutgesicherten Magazin. Im Normalfall bekommt der Nutzer zunächst ein Faksimile vorgelegt, also eine originalgetreue Eins-zu-Eins-Kopie mit jedem noch so kleinen Brandloch. Für das Original braucht es einen Sonderantrag, den der Handschriftenleiter prüft. Der weltberühmte „Codex Vaticanus“ wurde zweimal faksimiliert, erstmals im späten 19. Jahrhundert, „in den ersten Faksimile-Versuchen, die an der Vaticana gemacht worden sind“, erklärt Grafinger.
Heutzutage ist die Technik längst in einem neuen Stadium. Viele der etlichen hundert Bibelhandschriften quer durch alle Bestände werden derzeit digitalisiert. Eines Tages können Nutzer auf der ganzen Welt diese Schätze des Christentums online und ohne Zugangsbeschränkung einsehen. (rv)