Der US-amerikanische Anthropologie-Professor David Kertzer tritt mit einer klaren These an. Pius XI., Papst von 1922 bis 1939, hat aus seiner Sicht dem italienischen Faschismus den Weg geebnet und sei über weite Strecken ein Verbündeter Benito Mussolinis gewesen. In seinem Werk „Der erste Stellvertreter. Papst Pius XI. und der geheime Pakt mit dem Faschismus“ vertieft Kertzer diese Einschätzung auf 600 Seiten, ein Drittel davon sind Fußnoten.
Mit sicherem Blick fürs stimmige Detail zeichnet der Autor den Weg der beiden so ungleichen Männer nach: Achille Ratti, der aufbrausende Papst, der am liebsten Bücher und Berge hat, und der nach Macht, Frauen und sich selbst gierende Aufsteiger Mussolini. Beide kamen im Jahr 1922 an die Macht, beide waren politisch aufeinander angewiesen. Der Papst brauchte ein Stück Land rund um den Petersdom, Souveränität und die Zusicherung freier Kultausübung in Italien, und Mussolini brauchte politische Anerkennung, die er international ausschlachten konnte. Folgerichtig kam es zum Abschluss der Lateran-Verträge 1929. Kertzer zeichnet Pius als ein Kirchenoberhaupt mit deutlichen Sympathien für Mussolinis autoritären Führungsstil, beide hätten mit Demokratie nichts anfangen können und sich in gemeinsamer Feindschaft zu Juden und Sozialisten vereint fühlen dürfen.
Es ist ein lebendig geschriebenes und mit viel Stoff unterfüttertes Zeitporträt, das der Autor hier ausbreitet. Zugleich wird man den Eindruck nicht los, der Autor legt sich freiwillig Scheuklappen an: er lässt manches weg, was seine zentrale These ins Wanken bringen könnte, und bringt anderes, von dem man sich fragt, was es hier zu suchen hat. Bereitwillig lässt sich Kertzer etwa von einer besonders bunten Quellenkategorie umgarnen: von Spitzelberichten. Mussolini unterhielt ein dichtes Netzwerk an Spionen, die auch rund um den Vatikan horchten. Durchgängig zitiert der Autor aus diesen faschistischen Spitzelberichten, die Aufgeschnapptes in wild-gehässigem Tonfall wiedergeben. Dass es unzuverlässige Quellen sind, sagt Kertzer selbst, aber nur in den Fußnoten. Indessen erfährt der verdutzte Leser über homosexuelle Neigungen einzelner Kirchenmänner der 1920er Jahre. Solche Episoden mögen sich süffig lesen, bloß hält sich ihr Erkenntniswert mit Blick auf das Anliegen der Arbeit in Grenzen.
Kertzers Werk ist ein hübscher Mosaikstein der Forschung zum schwierigen Verhältnis zwischen katholischer Kirche und den europäischen Diktaturen des 20. Jahrhunderts. Große neue Erkenntnisse bringt es nicht, dafür viele Anekdoten, plastisch arrangierte Szenen, sogar Dialoge. Dafür gab es den Pulitzer-Preis, die berühmteste journalistische Auszeichnung in den USA.
Zum Mitschreiben: Der erste Stellvertreter. Papst Pius XI. und der geheime Pakt mit dem Faschismus, David I. Kertzer Verlag: Theiss (Rezension: Gudrun Sailer), Preis: 38 Euro. (rv)