Grundsätzlich bemängelt Mückl, dass der Streit um das Schulkreuz viel zu wenig als öffentliche Debatte geführt wurde und wird. Und was die rechtliche Seite betrifft: Der supranationale Europäische Gerichtshof für Menschenrechte habe sich bei seiner ersten Entscheidung auf das Kruzifixurteil des deutschen Bundesverfassungsgerichtes (1995) gestützt, ohne jedoch Fehler und die Besonderheiten des deutschen Urteils zu berücksichtigen: „Alle Schwachpunkte der Kruzifix-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes finden sich nun wieder in der Entscheidung des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofes".
Im italienischen Fall hatte der Menschrechtsgerichtshof das Kreuz als Eingriff in Grundrechte gewertet: Die Schule dürfe keine „Schaubühne missionarischer Aktivitäten" sein, hieß es dort, staatliche Neutralität und Pluralismus müssten dort garantiert sein. Das Kruzifix sei ein „genuin religiöses und appellatives Symbol", in der Schule sei es für die Kinder unausweichlich und könne als „emotional verstörend" empfunden werden.
Natürlich habe das Kruzifix eine spezifisch religiöse Bedeutung im kirchlichen Kontext, so Mückl dazu. Wie jedes Symbol bedürfe aber auch das Kreuz der Auflösung. Und die fiele eben je nach Kontext anders aus: „Der Symbolbetrachter wird ja nicht zu einer Äußerung der Billigung oder Affirmation oder Anbetung gehalten, es wird noch nicht einmal eine wie auch immer geartete Stellungnahme abverlangt." Das Symbol ist an sich also noch lange kein Aufruf zur Bekehrung, stellt der Jurist klar.
Größtes Manko des Urteils ist nach Mückl: Das Straßburger Gericht habe den jeweiligen Einschätzungsspielraum der nationalen Regierung, in diesem Fall Italien, komplett übergangen: „Diesen Beurteilungsspielraum hat der Gerichtshof in der Vergangenheit stets respektiert und es nicht unternommen, seine eigene Einschätzung an deren Stelle zu setzen. Von diesem Grundsatz findet sich in der neuen Entscheidung aber rein gar nichts."
Mit dem Kruzifixurteil habe Straßburg wohl europaweit Exempel statuieren wollen, vermutet der Staatsrechtler. Damit würde das Gericht den eigenen Grundsätzen untreu: „Was die Kammer hier nun macht, ist, dass sie letzten Endes die Rolle eines gesamteuropäischen Gesetzgebers einnehmen möchte, indem sie die ihr richtig erscheinende Konzeption des Verhältnisses von Staat und Kirche in die Form eines einzelfallbezogenen Judikates gießt." Den wirklichen Schaden aus dieser Entscheidung trüge letztlich nicht Italien, auch nicht das Kruzifix, sondern der Gerichtshof selber, und mit ihm die europäische Idee. Mückl: „Es ist hier einer einzigen Kammer gelungen, in einer einzigen Entscheidung die Autorität des gesamten Gerichtshofes aufs Spiel zu setzen, und zwar eine Autorität, die dieser Gerichtshof bitter braucht, wenn es darum geht, in anderen Fällen, wo in des Wortes wirklicher Bedeutung Menschenrechte auf dem Spiel stehen, diese auch tatsächlich zu schützen." (rv)
Schlagwort: EGMR
Schweiz: Justizministerium blockiert Behandlung des Minarett-Verbots am EGMR
Das Justizministerium hat mit einem Veto die Behandlung des Minarett-Verbots beim Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs (EGMR) blockiert. Das Ministerium machte in seinem Veto-Brief unter anderem geltend, dass Muslime bisher in der Schweiz kein konkretes Bauverbot eines Minaretts hinnehmen mussten. Das Dossier soll aber die sogenannte „Kleine Kammer" des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofes behandeln. Vier muslimische Schweizer Organisationen hatten beim Gerichtshof in Straßburg Einsprachen gegen die Anti-Minarett-Initiative eingereicht. Der Anwalt der muslimischen Organisationen bedauerte die Haltung des Bundesamtes für Justiz. Damit solle offenbar die Frage des Minarett-Verbots banalisiert werden, sagte der Anwalt der Schweizer Nachrichtenagentur „SDA" an diesem Mittwoch. Die Initiative wurde im November 2009 vom Volk angenommen. Zahlreiche Kritiker, darunter der Europarat, hatten beanstandet, das Minarett-Verbot verletze die Religionsfreiheit. (rv)