Ein Gespräch darüber, wie die aktuelle Wahrheitskrise der Katholischen Kirche schon vor 20 Jahren in dem „prophetischen Dokument Fides et Ratio“ konfrontiert wurde.
PHILADELPHIA – Anlässlich der am 14. September vor genau 20 Jahren erschienen Enzyklika Fides et Ratio des heiligen Johannes Paul II. hat Erzbischof Charles Chaput von Philadelphia einen Essay für die März-Ausgabe von „First Things“ veröffentlicht.
Der Aufsatz trägt den Titel „Believe that you may understand“ – ein Verweis auf die Worte des heiligen Augustinus, Crede ut intelligas: Glaube, um zu erkennen.
Chaput erklärt darin, warum er die Enzyklika des Jahres 1998 für ein prophetisches Dokument hält, gerade weil es „die Wahrheitskrise innerhalb der Katholischen Kirche konfrontiert“. Und er warnt vor „trendiger“ Theologie. Eine lebhafte Philosophie und gute Theologie dagegen bereicherten einander, so der Erzbischof: „Das Wissen um die Wahrheit vervielfältigt unsere Freiheit, zu lieben“.
Im Interview mit CNA sprach er weiter über die Relevanz der Enzyklika für die heutige Zeit.
Was kann der Durchschnittskatholik von heute von Fides et Ratio lernen, 20 Jahre nach seiner Veröffentlichung?
Erstens, dass es nicht die Art von Text ist, die man wie die Sonntagszeitung überfliegen kann. Fides et Ratio zu lesen und zu absorbieren, das braucht Zeit. Die meisten Menschen konzentrieren sich zu Recht auf Dinge wie die Familie und den Lebensunterhalt. Viele gute Leute lesen es vielleicht nie. Aber das schmälert nicht seine Bedeutung für den durchschnittlichen Gläubigen.
Die wichtigste Botschaft von Fides et Ratio ist, dass klar zu denken lernen, mit der Kirche, in reifer und gut informierter Art, unverzichtbar ist. Dass dies genauso wichtig ist, wie unsere religiösen Überzeugungen tief zu empfinden. Gefühle allein reichen nicht aus, und das beeinflusst direkt, wie wir die Rolle des Gewissens verstehen.
Christlicher Glaube ist mehr als guter Wille und gute Absichten. Das Gewissen ist mehr als nur unsere persönliche, aufrichtige Meinung. Ein gesundes Gewissen bedarf einer gründlichen Ausbildung in den allgemein gültigen Wahrheiten der katholischen Gemeinschaft. Ohne diese kann das Gewissen sehr schnell zu einer Alibimaschine werden. Die Welt ist voller Komplexitäten. Die Fähigkeit, fundiert katholisch zu denken, auf eine Weise, die in der Lehre der Kirche verankert ist, ist unabdingbar notwendig.
Das Problem ist, dass wir jetzt seit mindestens zwei Generationen schlechte Katechese und sehr unzureichende Gewissensbildung gehabt haben. Wenn also gesagt wird, wir sollten die moralischen Entscheidungen von heute dem „reifen Gewissen“ der Menschen um uns herum überlassen, sollten wir vielleicht – im Idealfall – zustimmen, aber bevor wir das tun, müssen wir doch prüfen, was genau damit gemeint ist. Eine große Anzahl ansonsten erfolgreicher, mündiger Erwachsener, die sich selbst als katholisch betrachtet, hat seit der sechsten Klasse keine Glaubensbildung mehr gehabt. Die Wiederherstellung der Disziplin guter, katholischer, moralischer Argumentation ist dringend erforderlich.
Wenn sich jemand in einem kulturellen oder kirchlichen Umfeld wiederfindet, das von schlechter Philosophie und Theologie dominiert wird: wie sollte er oder sie damit umgehen?
Ignoriere den Unsinn, lies, beobachte und höre gutes katholisches Material an, und lebe deinen Glauben in Übereinstimmung mit dem, was die Kirche immer gelehrt hat. Diese Grundlagen gelten immer noch für Ehe, Sex, Ehrlichkeit und alles andere. Es gibt keine „neuen Paradigmen“ oder Revolutionen im katholischen Denken. Die Verwendung dieser Art von irreführender Sprache bringt nur Verwirrung in ein verwirrendes Zeitalter.
Und was, wenn wir uns in einer Umgebung mit guter Philosophie und Theologie befinden, wovor müssen wir uns schützen?
Vor Stolz und Selbstgefälligkeit, und den Segen von guten Lehrern und Pfarrern für selbstverständlich zu halten. Wir alle sind berufen, Missionare zu sein. Wir predigen Jesus Christus am besten, wenn wir unseren Glauben in der Nächstenliebe und Gerechtigkeit unserer täglichen Handlungen bezeugen.
Warum denken Sie, dass diese Probleme des Glaubens und der Vernunft in unserer Zeit so wiederkehren?
Wissenschaft und Technik können scheinbar – aber nur scheinbar – das Übernatürliche und Sakramentale unglaubwürdig machen. Die Sprache des Glaubens kann beginnen, fremd und irrelevant zu klingen. Deshalb verlieren wir so viele junge Menschen, bevor sie überhaupt an religiösen Glauben denken. Sie werden jeden Tag von einem Strom materialistischer Ablenkungen katechisiert, die Gott nicht widerlegen, Ihm gegenüber aber gleichgültig machen.
Die Kirche kämpft mit vielen Selbstzweifeln. In Zeiten rasanter Veränderungen ist das natürlich. Ich denke, viele Seelsorger und Gelehrte der Kirche haben einfach das Vertrauen in die Rationalität des Glaubens und die Verlässlichkeit von Gottes Wort verloren, ohne bereit zu sein, dies zuzugeben. Stattdessen flüchten sie sich in humanitäre Empfindsamkeiten und soziales Engagement. Aber du brauchst Gott für keines dieser Dinge, zumindest auf kurze Sicht. Auf lange Sicht ist Gott der einzige Garant für Menschenrechte und Würde. Also müssen wir unser Christentum – zutiefst, treu und streng – denken und auch fühlen. (CNA Deutsch)