Die italienische Regierung will alles Mögliche unternehmen, um als Siegerin aus dem Gerichtsprozess zum Kruzifixurteil hervorzugehen. Der Europäische Menschenrechtsgerichtshof wird an diesem Mittwoch über das umstrittene Urteil verhandeln. Eine aus sieben Richtern bestehende Kammer des Menschenrechtsgerichtshofs hatte im November einer Klägerin aus Italien Recht gegeben, die sich gegen Kreuze in der öffentlichen Schule ihrer Kinder gewandt hatte. Ihrer Klage war vom Staatsrat, dem obersten italienischen Verwaltungsgericht, nicht stattgegeben worden. Dieser hatte 2006 entschieden, das Kreuz sei zu einem Symbol für die Werte Italiens geworden. Das ist auch die Meinung des Juristen und Professors für internationales Recht Joseph Weiler. Gegenüber unseren italienischen Kollegen erläutert er:
„Was die Haltung des italienischen Staates betrifft, so bin ich von ihrem Rekurs enttäuscht worden. Italien hatte nämlich behauptet, dass das Kreuz ein nationales und kulturelles Symbol sei. Es war nicht die Rede davon, dass das Kreuz ein religiöses Symbol ist. Eine solche Haltung ist falsch. Denn es geht bei dieser Gerichtsverhandlung nicht einfach darum, als Sieger herauszutreten. Es geht vielmehr um die Art und Weise des Urteilsspruchs."
Das gegenläufige Urteil des Menschenrechtsgerichtshofs löste nicht nur in Italien und nicht nur innerhalb der katholischen Kirche erhebliche Kritik aus. Weiler ist Professor für Völker- und Europarecht an der New York University School of Law und am Europakolleg in Brügge und – er ist Jude. Zusammen mit Kollegen aus verschiedenen Ländern hat er ebenfalls Einspruch gegen den Urteilsspruch von 2006 eingelegt.
„Ich möchte unbedingt verhindern, dass der Grundsatz gelten wird: „Religiöse Symbole sind unzulässig". Denn wenn Kruzifixe nur aus kulturellen Gründen in öffentlichen Gebäuden hängen, dann ist das ein Eigentor. Viele denken noch so, wie die USA vor 200 Jahren. Damals galt, dass nur eine leere Wand ohne Symbole die neutrale Haltung des Staates wiedergebe. Damals waren auch alle US-Bürger religiös. Unsere heutige westliche Gesellschaft hingegen ist zweigeteilt in religiöse und nicht religiöse Menschen. Und da gilt der Leitgedanke, dass wir unseren Kindern die Pluralität und somit die Toleranz beibringen sollen. Und das geschieht sicher nicht, indem wir die Kruzifixe von den Wänden niederreißen."
Wann das Urteil der Großen Kammer ergeht, ist offen. Im Regelfall vergehen zwischen der mündlichen Verhandlung, wie sie jetzt für Ende Juni angesetzt ist, und der Urteilsverkündung mehrere Monate.
Vor der Neuverhandlung des Kruzifixurteils vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof hatte vor wenigen Tagen die Italienische Bischofskonferenz (CEI) Kreuze in Schulen abermals verteidigt. Die Gegenwart religiöser Symbole, insbesondere des Kreuzes, stelle keinen Zwang dar und schließe niemanden aus, hieß es in einer Erklärung der CEI in Rom. Das Kruzifix sei Zeichen für die Dialogbereitschaft mit allen Menschen guten Willens. Zudem stehe es für die Hilfe für Notleidende und Bedürftige unabhängig von deren Religion, Ethnie oder Nationalität. Die Bischöfe riefen die Richter auf, die religiöse Befindlichkeit der Gläubigen in der Urteilsfindung zu berücksichtigen. (rv)