„Materiell“ werden die Flüchtlinge aus Syrien in der Regel „mit dem Notwendigsten versorgt“. Mit diesem Eindruck ist der Geschäftsführer des deutschen kirchlichen Hilfswerks Misereor, Martin Bröckelmann-Simon, von einer Reise durch die Nachbarländer Syriens zurückgekommen. Doch die „aussichtslose Perspektive“ bedeute für die Flüchtlinge eine „unglaubliche Belastung“ und lasse „den Eindruck von großer Hoffnungslosigkeit“ entstehen – vor allem, weil sie kaum mit einer baldigen Rückkehr in ihre Heimat rechnen könnten.
„Für manche sind ja jetzt fast drei Jahre ins Land gegangen; viele von ihnen sind zuerst innerhalb Syriens geflüchtet und dann über die Grenze. Man merkt eben vielen Menschen, vor allem den Kindern, an, welche Stress-Situationen sie hinter sich haben und welche Lasten auf ihren Seelen ruhen.“
Etwa 3.000 Flüchtlinge aus Syrien strömen täglich über die Grenze in den Libanon hinein; auf vier Millionen Libanesen kommen mittlerweile 1,3 Millionen Syrien-Flüchtlinge im kleinen Zedernland. Immer wieder ist davon die Rede, dass das die Stabilität bedrohe und dass der Krieg bei den Nachbarn auch auf den Libanon übergreifen könnte. Aber Bröckelmann-Simon hat nicht beobachtet, dass die Flüchtlinge im Libanon auf Ablehnung stoßen.
„Wir haben sehr beeindruckende Beispiele für gastfreundliche Aufnahmen, auch über die Grenzen von Religionen hinweg, erlebt. Die Dörfer bzw. Gemeinden, in denen sich die Flüchtlinge befinden, sind zu 87 Prozent die Armutsregion im Libanon, und trotzdem passiert dort viel Unterstützung, im Rahmen der Möglichkeiten. Aber natürlich ist die Nation insgesamt doch sehr – ja, eigentlich schon überlastet. Wenn man sich vorstellt, dass es eben einen Bevölkerungszuwachs um 33 Prozent in den letzten zwei, drei Jahren durch die Flüchtlingszahlen gegeben hat, dann muss man das mal auf Deutschland umgerechnet denken: Das wären 25 Millionen Zuwanderer, Flüchtlinge, in Deutschland innerhalb dieses Zeitraums!“
„Könnt ihr uns nicht mitnehmen?“
Man könne sich leicht vorstellen, was das für ein Land bedeute. „Noch dazu, wo der Libanon ja selber wirtschaftlich – und politisch sowieso – angeschlagen ist, ein sehr fragiles Gebilde. Und diese ganze Unsicherheit überträgt sich natürlich auch auf die Flüchtlinge. Sie wissen, dass sie in diesem Land dauerhaft keine Perspektive haben.“ Und eine Rückkehr nach Syrien ist auch nicht drin – darum schweift der Blick der Flüchtlinge gerne mal in Richtung Europa. „Die Frage, die uns ganz oft begegnet, ist: Könnt ihr uns nicht mitnehmen?“
In Gegenden, wo sich nicht nur der libanesische Staat und das UNO-Flüchtlingswerk, sondern auch NGOs um die Flüchtlinge kümmerten, sei schon mehr als das bloße Verteilen von Nahrungsmittelhilfe oder Medikamenten sichergestellt, so Bröckelmann-Simon. „Da geht es insbesondere um die schulische Versorgung der Kinder und um psychische Aufarbeitung der traumatisierenden Erlebnisse.“ Ein guter Teil der Syrien-Flüchtlinge habe anfänglich vom eigenen, mitgebrachten Geld gelebt, „weil sie sich nicht abhängig machen wollten“; mittlerweile seien sie „rapide verarmt“, denn das Unterkommen in oft vollgestopften „Armutsbehausungen“ sei teuer. „Das zehrt an den Ersparnissen, und man kann davon ausgehen, dass sich die Not in der Flüchtlingsbevölkerung in den nächsten Monaten weiter verschärft, unabhängig von den klimatischen Einflüssen. Der Winter scheint ja nun weniger streng gewesen zu sein, wenn er nicht noch mal wiederkommt, als befürchtet.“ Darum sei es Gott sei Dank auch nicht zu „gravierenden Zahlen“ von Todesfällen gekommen. „Aber es ist schon sehr erbärmlich, wenn man sieht, wie die Menschen in den Zelten hausen müssen – bei Temperaturen von nachts um oder unter null Grad!“
„Düstere, schwarze Bilder“
Besser als im Libanon gehe es Syrien-Flüchtlingen eindeutig im Nordirak, also im irakischen Kurdengebiet. Zum einen sind sie zahlenmäßig nicht „eine solche Last“ für ihre Gastgeber, denn gemessen an der einheimischen Bevölkerung bedeuten sie nur einen Zuwachs von fünf Prozent. „Sie sind natürlich auch ethnisch-sprachlich Brüder und Schwestern der in Kurdistan lebenden Menschen und werden als Gäste empfangen. Sie können sich frei bewegen und jede Art von Arbeit aufnehmen.“ Außerdem sind die Vielen, die immer noch in Lagern leben, leichter zu versorgen, so der Misereor-Experte. „Im Libanon sind die Menschen über das ganze Land verteilt, es gibt ja keine zentralen Flüchtlingslager dort, und man findet sie eben in Massen-Wohnquartieren in den Armenvierteln von Beirut oder versprengt über die Dörfer der Bekaa-Ebene in Zeltsiedlungen, bei denen dann immer so zwanzig Familien zusammenleben, und die nächste Gruppe lebt dann einen Kilometer weiter. Das macht die Dinge logistisch schwieriger.“
Die Flüchtlinge erzählten „schreckliche Dinge“, berichtet Bröckelmann-Simon: „Ereignisse, die sich ihnen in die Seele eingebrannt haben, von Bombardements, Erschießungen und Foltererlebnissen. Menschen, die entführt worden sind und das Trauma mit sich herumtragen.“ Oft sehe man es den Augen der Flüchtlinge an, was sie erlebt hätten. „Und die Kinder, denen wir begegnet sind – viele drücken das in Bildern aus, die düster und schwarz sind und in denen sie versuchen, das zu verarbeiten, was sie gesehen haben.“ Misereor und seine Partner achten darauf, nicht nur den Flüchtlingen zu helfen, sondern auch den Dorfgemeinschaften, die sie aufnehmen und die oft ja selbst bitterarm sind. „Und dann sitzen eben maronitisch-christliche Kinder neben sunnitischen syrischen Flüchtlingskindern auf der gleichen Schulbank und löffeln zusammen die Suppe aus der Schulspeisung.“
Es gebe viele Beispiele für Kooperation und Hilfe über alle Grenzen hinweg. In Byblos (Jbeil) bei Beirut zum Beispiel habe der sunnitische Imam Räumlichkeiten in seiner Moschee zur Verfügung gestellt. Dort unterrichte jetzt der Jesuiten-Flüchtlingsdienst syrische Kinder, damit sie Anschluss ans libanesische Schulsystem finden. „So dass jetzt Klassen morgens und nachmittags voll sind mit syrischen Flüchtlingskindern unterschiedlicher Konfession, die dort in der Moschee von Jesuiten und katholischen Flüchtlingslehrern aus Aleppo unterrichtet werden.“ (rv)