Müde sei Europa geworden: Eine Aussage, die Papst Franziskus an diesem Dienstag in Straßburg nicht das erste Mal machte. Wie kommt man aus dieser Mattheit heraus? Dadurch, dass Europa nicht stehen bleibt, sondern überschreitet, aus sich selbst heraus geht. Diese in seinen Predigten und Texten immer wieder genannten geistigen Ratschläge wandte er vor den Vertretern des Europarates auf gesellschaftliche, geistige und politische Probleme an.
In Straßburg versammelt waren die Parlamentarische Versammlung des Europarats, die Vertreter der Mitgliedsländer, die Richter des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte wie auch die verschiedenen Einrichtungen, die den Europarat als solchen bilden.
„Tatsächlich ist fast ganz Europa in dieser Aula zugegen, mit seinen Völkern, seinen Sprachen, seinen kulturellen und religiösen Ausdrucksformen, die den Reichtum dieses Kontinentes ausmachen.“
Das erste Anliegen des Europarats und deswegen das erste Anliegen der Rede des Papstes war der Frieden. Der Weg zum Frieden bestehe darin, den anderen nicht als Feind zu sehen, sondern als einen Bruder, der anzunehmen sei, so Papst Franziskus.
„Um das Gut des Friedens zu gewinnen, muss man vor allem zum Frieden erziehen, indem man eine Kultur des Konfliktes fernhält, die auf die Angst vor dem anderen, auf die Ausgrenzung dessen, der anders denkt oder lebt, ausgerichtet ist. Freilich darf der Konflikt nicht ignoriert oder beschönigt werden; man muss sich ihm stellen. Wenn wir uns aber in ihn verstricken, verlieren wir die Perspektive, die Horizonte verengen sich, und die Wirklichkeit selbst zerbröckelt. Wenn wir in der Konfliktsituation verharren, verlieren wir den Sinn für die tiefe Einheit der Wirklichkeit, halten die Geschichte an und verfallen der inneren Zermürbung durch fruchtlose Widersprüche.“
Leider gebe es auch in Europa immer noch Konflikte, Schmerz und auch Tote, so der Papst: „Darum ist das Werk des Europarates auf der Suche nach einer politischen Lösung der gegenwärtigen Krisen wichtig und ermutigend.“ Friede sei aber nicht bloß das Nichtvorhandensein von Kriegen, Konflikten und Spannungen – der Papst warb hier für ein positives Verständnis von Frieden, wie Europa ihn wünsche.
Das Europa, welches der Europarat vertrete, habe den Weg der Menschenrechte, der Demokratie und des Rechtsstaates gewählt, um den Frieden zu fördern, würdigte der Papst die Staatengemeinschaft. Damit sie dies auch weiterhin tun könne, müsse sie ihre eigenen Wurzeln kennen und diese auch nutzen. Das lehre zum Beispiel, dass man nach Wahrheit suchen müsse, so Franziskus. Wahrheit, das unbeeinflusste Gewissen und das Erkennen der Würde gehörten zusammen, führte der Papst aus. Nur mit Blick auf die Wahrheit gebe es deswegen den Raum der verantwortlichen Freiheit.
„Man muss sich zudem vor Augen halten, dass ohne diese Suche nach der Wahrheit jeder zum Maß seiner selbst und seines Handelns wird und so den Weg zur subjektivistischen Behauptung der Rechte bahnt. Auf diese Weise wird der Begriff der Menschenrechte, der von sich aus Allgemeingültigkeit besitzt, durch die Idee des individualistischen Rechts ersetzt. Das führt dazu, sich im Grunde für die anderen nicht zu interessieren und jene Globalisierung der Gleichgültigkeit zu fördern, die aus dem Egoismus entspringt und Frucht eines Menschenbildes ist, das unfähig ist, die Wahrheit aufzunehmen und eine authentische soziale Dimension zu leben.“
Heute aber scheine es so, als ob bei diesem Anliegen, den Frieden zu sichern, nicht mehr viel Energie da sei.
„Ein etwas müdes und pessimistisches Europa, das sich durch die Neuheiten, die von den anderen Kontinenten kommen, belagert fühlt. Wir können Europa fragen: Wo ist deine Kraft? Wo ist jenes geistige Streben, das deine Geschichte belebt hat und durch das sie Bedeutung erlangte? Wo ist dein Geist wissbegieriger Unternehmungslust? Wo ist dein Durst nach Wahrheit, den du der Welt bisher mit Leidenschaft vermittelt hast?“
Von der Antwort auf diese Frage werde die Zukunft des Kontinentes abhängen. Europa müsse darüber nachdenken, ob sein gewaltiges Erbe auf menschlichem, künstlerischem, technischem, sozialem, politischem, wirtschaftlichem und religiösem Gebiet ein bloßes museales Vermächtnis der Vergangenheit sei. Hier spiele der Europarat eine „primäre Rolle“ und hierbei wolle die Kirche helfen.
„In dieser Perspektive ist der Beitrag zu verstehen, den das Christentum heute zur kulturellen und gesellschaftlichen europäischen Entwicklung im Rahmen einer rechten Beziehung zwischen Religion und Gesellschaft leisten kann. Aus christlicher Sicht sind Vernunft und Glaube, Religion und Gesellschaft berufen, einander zu erhellen, indem sie sich gegenseitig unterstützen und, falls nötig, sich wechselseitig von den ideologischen Extremismen läutern, in die sie fallen können. Die gesamte europäische Gesellschaft kann aus einer neu belebten Verbindung zwischen den beiden Bereichen nur Nutzen ziehen, sei es, um einem religiösen Fundamentalismus entgegenzuwirken, der vor allem ein Feind Gottes ist, sei es, um einer ,beschränkten‘ Vernunft abzuhelfen, die dem Menschen nicht zur Ehre gereicht.“
Er wünsche sich, dass eine neue soziale und wirtschaftliche Zusammenarbeit entstehe, die frei sei von ideologischen Bedingtheiten und die der globalisierten Welt mit Solidarität begegne, so Papst Franziskus weiter. Das brauche es auch mit dem Blick auf die Probleme des Kontinents: Jugendarbeitslosigkeit, Aufnahme von Flüchtlingen, die Armut in Europa und den Umweltschutz – dies seien dringende Themen.
„Es geht darum, gemeinsam eine umfassende Überlegung anzustellen, damit eine Art ,neuer Agora‘ entsteht, in der jede zivile und religiöse Instanz – obschon in der Trennung der Bereiche und in der Verschiedenheit der Positionen – sich frei den anderen gegenüberstellen kann, ausschließlich bewegt von der Sehnsucht nach Wahrheit und dem Wunsch, das Gemeinwohl aufzubauen. (..) Mein Wunsch ist, dass Europa mit der Wiederentdeckung seines historischen Erbes und der Tiefe seiner Wurzeln (..) jene geistige Jugend wiederfindet, die es fruchtbar und bedeutend gemacht hat.“ (rv)