Der Wiener Kardinal Christoph Schönborn hat am Freitag das Nachsynodale Apostolische Schreiben „Amoris Laetitia“ von Papst Franziskus vorgestellt. Es ist der Schlusspunkt eines Prozesses, den Papst Franziskus mit einem Kardinalskonsistorium begonnen hat, darauf folgten zwei Versammlungen der Bischofssynode. Schönborn hat den gesamten Prozess begleitet, war Leiter des deutschsprachigen Zirkels bei der Synode. Mit unserem Redaktionsleiter Pater Bernd Hagenkord sprach Schönborn über das Schreiben von Franziskus und die Schlüsse, die man daraus ziehen kann.
RV: Kardinal Schönborn, Sie waren bei beiden Synoden dabei, haben das Dokument studiert, vorgestellt. Was ist das eine Ergebnis, das man über das Dokument und damit auch über den Ausgang des synodalen Prozesses wissen muss?
Schönborn: „Die Freude an der Familie, die Freude an der Ehe. Ein grundpositives Wort, ein grundpositives Dokument über die unaufgebbar und unzerstörbar positive Kraft von Ehe und Familie. Das ist glaube ich die Kernbotschaft. Es ist ein großes Ja zur Liebe, wie sie gelebt wird in Ehe und Familie. Und es ist ein großes Ja zur Hoffnung, dass dieses Ideal möglich ist, auch wenn es im Alltag über viele Schwierigkeiten und Mühen geht – aber noch wichtiger, das ist für mich die Kernbotschaft dieses Schreibens, ist die Freude daran.“
RV: Ich vermute, ich liege nicht ganz falsch, wenn ich sage, die meisten Menschen erwarten sich dann doch etwas anderes. Es sind ja viele Diskussionen geführt worden über wiederverheiratete Geschiedene und ihr Zugang zur Kommunion. Das ist glaube ich das Stichwort dafür, und dazu steht nichts im Dokument. Da wird es Enttäuschung geben. Was sagen Sie diesen Menschen?
Schönborn: „Lest das Dokument. Manche Enttäuschungen entstehen dadurch, dass wir auf einen bestimmten Punkt hinschauen und völlig fixiert sind und nicht das Wunderbare sehen, was rund herum ist. Und was eigentlich auch die Antwort auf diesen einen Punkt gibt. Ich denke, eine vor allem in unserem Sprachraum, aber auch unter vielen Theologen viel zu einseitig auf eine Frage hin konzentrierte Aufmerksamkeit bei diesen Synoden und jetzt bei diesem abschließenden Dokument des Papstes birgt in sich die Gefahr, dass man blind wird für den ganzen Reichtum des Themas. Ich denke, dem wollte Papst Franziskus entgegenwirken, indem er zuerst einmal von der Schönheit und Lebendigkeit von Ehe und Familie gesprochen hat. Ich kann nur daran erinnern und darum bitten, lest das Kapitel 2,3,4 und 5, die zentralen Kapitel des Textes. Ich weiß schon, die meisten stürzen sich sofort auf das 8. Kapitel.
Ich gestehe, ich habe auch gleich einmal dort hingeschaut, ja, das gebe ich zu. Weil das die kontroversen und diskutierten Themen sind. Aber das ist eine alte Regel für den Umgang mit Problemen. Man kann auch in eine Problemtrance geraten, indem man dann so fokussiert ist auf einen Punkt, dass man das Ganze nicht mehr sieht. Mir hat Papst Franziskus einmal in einem Gespräch gesagt: Es ist eine Falle – diese Verengung auf die Frage, ob sie zur Kommunion gehen dürfen oder nicht, ist eine Falle. Wir können gerne dann über das sprechen, was der Papst und die Synode dazu zu sagen haben, aber ich lade wirklich ganz herzlich dazu ein, lesen Sie besonders das 4. Kapitel über die Freude an der Liebe, wo Papst Franziskus das große Kapitel 13 des 1. Korintherbriefs auf Ehe und Familie hin auslegt. Und das ist die christliche Kernbotschaft. Natürlich muss man das ernst nehmen, diese Fragen stehen im Raum: ‚Wie steht das mit denen, deren Beziehung gescheitert ist?‘ Und Papst Franziskus macht klar: In gewisser Weise zeigt sich an diesen Fragen, wie weit es der Kirche gelingt, die Botschaft der Barmherzigkeit glaubwürdig zu leben. Und darum hat Papst Franziskus etwas gemacht, was die Synode bereits vorbereitet hat. Und was er sehr viel deutlicher herausarbeitet: Das sogenannte ‚discernimento‘, die Unterscheidung. Seine Einladung ist: Hinschauen, konkret auf die Lebenssituation der Betroffenen eingehen, sie begleiten. Und sehen, wo es Positives gibt, wo es gutes Bemühen gibt. Wo es Ansätze eines Wachstums, eines Fortschritts im Guten gibt. Und nicht von vorne herein nur zu urteilen, oder gar zu verurteilen.“
RV: Ist das das, was einige als geöffnete Tür in Richtung Reform oder Modernisierung bezeichnen würden?
Schönborn: „Ich glaube, diese Tür war nie geschlossen, aber manche haben sie so interpretiert, als wäre sie geschlossen. Es gab und gibt immer wieder die Versuchung, die Papst Franziskus ‚Bianco o nero‘, Schwarz oder Weiß nennt. Nach dem Motto: Es gibt nur zwei Möglichkeiten, alles oder nichts. Er als guter Jesuit ist bei Ignatius in die Schule gegangen. Der Heilige Ignatius führt in seinen Exerzitien dort hin, hinzuschauen und zu –horchen: Was ist der Wille Gottes in dieser Situation. Was sagt mir Gott in dieser konkreten Situation? Wie wirkt er? Wohin zieht er und führt er mich? Und deshalb sagt er ganz klar – das ist sicher ein Schlüsselsatz dieses Dokumentes – man darf weder von den beiden Synoden noch von diesem Dokument eine neue kirchenrechtliche Norm erwarten, die für alle Fälle passt.
Manche haben sich eine solche Norm erwartet, eine Art Generalregelung. Da hat er ein klares Nein gesagt. Fügt aber dann gleich hinzu: aber es geht um ein behutsames, aufmerksames Hinschauen und Begleiten in einzelnen Fällen. Das ist sehr viel anspruchsvoller. Er sagt ja auch, manche hätten am liebsten eine genaue Regel, die sie genau anwenden können. Da brauchen sie gar nicht hinzuschauen, wie es den Menschen wirklich geht. Auf der anderen Seite sagt er, manche machen es sich zu leicht, indem sie einfach überall Ausnahmen sehen und genehmigen und durchgehen lassen, ohne sich die Mühe zu machen, genauer hinzuschauen.
Und da darf ich schon mit einer gewissen Freude und Dankbarkeit sagen, dass unsere Arbeit im deutschsprachigen Zirkel bei der zweiten Synode vom Schlussdokument der Synode ganz übernommen worden ist. Und jetzt von Papst Franziskus noch einmal bestätigt, übernommen und vertieft worden ist. Nämlich Kriterien der Unterscheidung. Wie kommen wir als Seelsorger, aber auch als Betroffene zu einer wirklichen Gewissensentscheidung. Dazu braucht es Kriterien. Im deutschsprachigen Zirkel haben wir eine Reihe solcher Kriterien genannt. Die finden Sie jetzt auch im Schlussdokument des Heiligen Vaters. Damit die Seelsorger mit den Betroffenen gemeinsam einen Weg der Unterscheidung, der Umkehr, der Bekehrung und der Integration in das Leben der Kirche gehen.
Das ist ein Schlüsselwort wiederum des päpstlichen Schreibens: Integration. Nicht Exklusion, nicht Ausschluss, sondern Einschluss. Und wie dieser Einschluss aussehen kann, das ist nicht von vorne herein am ersten Tag schon alles klar auf dem Tisch. Dazu gibt es auch nicht eine Generalnorm, sondern das ist ein Weg. Und auf diesem Weg braucht es Etappen und auf diesen Weg muss man sich einlassen. Und ich nenne nur eine dieser Etappen, die vielleicht am meisten vergessene, aber für das Leben oft am schmerzlichsten spürbare, das ist die Frage an Menschen, die in neuen Partnerschaften leben, die eine Ehe verlassen haben oder deren Ehe zerbrochen ist, die Frage: ‚Wie seid ihr mit euren Kindern umgegangen?‘ Papst Franziskus hat darüber zwei wunderbare, rührende Katechesen gehalten. ‚Schaut auf die Kinder. Wie geht es den Kindern? Habt ihr euren Rosenkrieg, euren Konflikt auf dem Rücken eurer Kinder ausgetragen? Habt ihr sie zu Geiseln in eurer Feindschaft gemacht? Haben die Kinder das austragen müssen?‘ Das ist das erste Unterscheidungskriterium, das wir im deutschsprachigen Zirkel genannt haben, das jetzt im päpstlichen Dokument steht und dann eine ganze Reihe anderer Kriterien, an denen man messen kann, wo Menschen, deren Partnerschaft oder Ehe zerbrochen ist, die in einer neuen Beziehung leben, wo sie wirklich stehen.
RV: Das Dokument ist das Ende eines synodalen Prozesses, den Papst Franziskus mit einem Kardinalskonsistorium begonnen hat und dann zwei Versammlungen der Bischofssynode. Sie waren überall dabei, von Anfang bis zum Schluss. Wie bewerten Sie in der Rückschau diesen Prozess. War das ein Paradebeispiel für Synodalität? Oder war das eher noch eine Experimentierphase?
Schönborn: „Ich glaube Papst Franziskus hat hier etwas gezeigt, was zum Wesen der Kirche gehört: ihre Synodalität. Er hat das ja ausführlich dargelegt bei der Gedenkfeier 50 Jahre Bischofssynode am 17. Oktober 2015. Und er hat es mit einem spanischen Wort bezeichnet in Evangelii Gaudium: ‚primerear‘. Das kommt aus dem Argentinischen und bedeutet so viel wie ‚Prozesse in Gang setzen‘. Er hat ein ganz großes Vertrauen darauf, dass der Heilige Geist die Kirche leitet und dass das in einem Prozess geschieht, in Etappen. Darum wollte er erstens, dass es auf diesem Weg mehrere Etappen auf diesem Weg gibt, zweitens hat er immer wieder eingeladen zur offenen Diskussion. ‚Sprecht mit Freimut und hört mit Demut zu‘, hat er uns mehrmals gesagt.
Ich kenne kein postsynodales Schreiben seit es die Synode gibt, das so ausführlich die Arbeit der Bischöfe, der Synodenväter integriert hat wie dieses Dokument. Und immer wieder sagt Papst Franziskus in seinem Schreiben: Ich mache mir zu eigen, was die Synodenväter gesagt haben. Die Synodenväter haben Folgendes beraten und mir vorgeschlafen und ich nehme es auf und an. Das ist ein gelebter synodaler Prozess, in dem der Papst ganz klar seine Rolle spielt. Er hat das letzte Wort, er hat das Wort des obersten Hirten. Aber er spricht dieses Wort im Hören auf das, was in der Kirche sich getan hat und von der Kirche gesagt worden ist.“ (rv)