Der Terror des ‚Islamischen Staats’ macht das Miteinander von Muslimen und Christen weltweit schwieriger. Das sagt der Vatikanverantwortliche für das Gespräch der Religionen, Kardinal Jean-Louis Tauran. In der Schweiz hat sich der Leiter des päpstlichen Dialograts in den letzten Tagen mit Bischöfen und Islamexperten aus vielen Teilen Europas beraten – und kam dabei zu folgendem Schluss: „Wir haben alle einhellig festgestellt, dass sich die Lage heute geändert hat, dass sie vor allem durch das, was im Nahen Osten vorfällt, bestimmt ist, und zwar besonders durch den ‚IS’, das ‚Kalifat’. Die irreguläre Einwanderung führt dazu, dass weiterhin eine große Zahl von Muslimen auf den europäischen Kontinent strömt. Wir haben festgestellt, dass sich Muslime, vor allem junge Muslime, (in Europa) radikalisieren – auch wenn wir alle überrascht sind, warum sich Muslime, die in Europa geboren sind, zum Extremismus der Dschihadisten bekehren lassen.“ Das stelle Europa Fragen, so Tauran: „Was bedeutet das alles? Warum lassen sich diese jungen Leute vom ‚IS’ verführen?“
Der französische Kurienkardinal versuchte sich selber an einer Antwort: „Das ist der Ausdruck einer Frustration, eines Mangels an Möglichkeiten. Natürlich ist für diese Jugendlichen das Geld, das die Organisation ihnen bietet, verlockend, aber sie werden auch von einer Art Lebens-Motivation angezogen. Ich glaube darum: Wir müssen dem Leben – dem persönlichen und dem sozialen Leben – wieder einen Sinn geben.“
Tauran war es gewesen, der letztes Jahr nach dem Aufkommen des ‚Islamischen Staats’ eine scharfe Verurteilung der Terrorgruppe im Stil einer Anklageschrift veröffentlicht hatte: ungewöhnlich für ein Vatikandokument. Aber der Kardinal ist kein Scharfmacher, er weist zum Beispiel auch auf zaghafte Bewegungen innerhalb des Islam hin, die den Koran einer historisch-kritischen Analyse unterziehen. „Ja, das ist etwas sehr Diskretes, fast nicht Wahrnehmbares. Aber wir sehen doch, dass die jungen Leute, vor allem die jungen Muslime, die Zugang zur Kultur und zur Universität haben, sich tatsächlich die Frage nach der historischen Kritik (des Koran) stellen.“ Der Schlüssel dazu ist eine gute Schul- und Universitätsbildung: „Die Ausbildung ist fundamental! Ich bestehe vor allem auf dem Punkt des Geschichtsunterrichts. Das würde es uns erlauben, diese Krise zu überwinden.“
Kardinal Tauran ist fest davon überzeugt, „dass der Terrorismus nicht siegen wird“. „Aber die Wirkungen und Folgen des Terrorismus werden noch lange anhalten. Darum müssen wir dem Leben unserer Bürger dringend Hoffnung und Sinn zurückgeben. Das müsste ein Ehrgeiz sein, den wir alle teilen.“ Zum Dialog sieht er, „auch in Zeiten der Verfolgungen“, keine Alternative. „Aber natürlich ist die Ghettobildung immer eine Versuchung. Die große Frage bleibt weiterhin: Wie kann man beides gleichzeitig, Muslim sein und Europäer werden?“
Muslim sein und Europäer werden
Keine Ghettos bilden – diese Mahnung von Kardinal Tauran gilt nicht nur den Muslimen in Europa, sondern auch den Christen. „Man kann nicht Christ sein und sich in der Kirche einschließen, man muss rausgehen, an die Peripherien, wie der Papst das so oft sagt! Wir haben diese Gnade, die Verschiedenheit in der Einheit zu leben. Und das ist etwas, das wir allen zur Verfügung stellen müssen. Wir müssen uns ansehen, zuhören, zusammen eine Gesellschaft bauen, in der Unterschiede Reichtum bedeuten.“
Muslimen zuhören, das tut kaum jemand so oft wie Kardinal Tauran. Für sich selbst hat er daraus vor allem gelernt, dass man die islamische Welt nicht über einen Kamm scheren kann. „Wissen Sie, unsere muslimischen Gesprächsparter sind sowas von verschieden! Die, die wir in der Schweiz getroffen haben, waren Universitätsdozenten, und mit ihnen zu sprechen ist natürlich sehr leicht. Ich sehe, dass Muslime generell sehr unsere Arbeit im Schul- und Bildungswesen schätzen. Zum Beispiel, dass die Dominikaner vor zwei Jahren mitten im Krieg in Bagdad ein Institut für Sozialwissenschaften eröffnet haben – das ist doch außerordentlich! Es geschieht so viel Positives – da gibt es zum Beispiel ein paar muslimische Familien in Bagdad, die haben schon seit über einem Jahr christliche Familien bei sich aufgenommen. Das sind positive Dinge… Da geht es um den Dialog des Lebens, der ist wichtig, und den gibt es! Das muss man aussprechen.“ Aber spiegelt sich das alltägliche Miteinander von Muslimen und Christen in mehrheitlich muslimischen Ländern denn auch in den Medien wieder? „Nein. Leider nicht…“ (rv)