Eine gute Lösung für die Menschen im Irak und damit auch für die Christen ist kaum mit europäischen Vorstellungen von Staaten und Grenzen zu lösen, diese Logik führe nur zu Machtfragen, nicht aber zu gegenseitigem Respekt. Das sagt Kardinal Fernando Filoni, so etwas wie die Autorität im Vatikan zu Fragen der Christen im Nahen Osten. Zwei Mal war er im Auftrag von Papst Franziskus zu Besuch bei den Christen im Irak, während des zweiten Golfkrieges 2003 war er als Nuntius im Land gewesen und hatte als einziger westlicher Diplomat dort ausgeharrt. Jetzt hat der Präfekt der Missionskongregation ein Buch über die Christen im Irak vorgelegt. „Es ist klar, dass wir uns bei einer modernen Vorstellung von Staat fragen müssen, welche Zukunft der Irak haben kann, der so, wie wir ihn kennen, ja erst 1920 entstanden ist“, erklärt Kardinal Filoni im Interview mit Radio Vatikan. „Nach dem letzten Golfkrieg hat sich der Irak politisch gewandelt, aber die religiösen und politischen Identitäten sind geblieben.“
Ein Ergebnis sei der gegenwärtige Krieg, unter dem vor allem die Minderheiten, darunter die Christen, leiden. „Der Papst hat eine große Rolle gespielt, und alle dort erkennen an, dass er die weltweite Aufmerksamkeit auf diesen Bürgerkrieg und so auf das Schicksal der Christen, die dort vertrieben werden, fokussiert hat.“ Christen, Jesiden und andere Minderheiten seien die Opfer der Vertreibungen, davon habe er sich mehrfach selber überzeugen können, erklärte Filoni.
„Viele Muslime erkennen das Geburtsrecht der Christen an, hier zu sein“
„Die Christen sind integraler Teil der Geschichte des Nahen Ostens und besonders der Geschichte des Iraks. Mir hat man oft gesagt ‚Ihr Christen habt das Geburtsrecht hier, wir sind nachher gekommen, sowohl als Muslime als auch als Menschen, die nachher zugereist sind’. Der Irak war immer ein Durchzugsgebiet, in dem viele Menschen dann blieben. Viele Muslime erkennen an, dass die Christen das Geburtsrecht haben, hier zu bleiben.“
Eine entscheidende Phase der irakischen Geschichte ortet Kardinal Filoni in der Zwischenkriegszeit, als Europa – glücklos – seine Vorstellungen zu Staat und Grenzen nach Nahost exportierte. Durch die europäischen Mächte nach dem Ersten Weltkrieg habe sich im Nahen Osten Druck aufgebaut, erklärt Filoni. Länder wie Syrien, der Irak, der Libanon oder Saudi Arabien seien von Europa aus erst gebildet worden. „Es sind keine Orte mit einer langen Tradition von einheitlichen Staaten. Viele Ethnien und Religionen lebten dort zusammen. Und der Druck entstand dann mit der im Westen ausgedachten Staatenbildung, denn die entsprach nicht den örtlichen Bedürfnissen. Das ist nie überwunden worden.“ Kämpfe um Macht und die gegenseitigen Ansprüche und Forderungen prägten die politische Landschaft, so fühlten sich etwa die Kurden verraten, weil sie keinen eigenen Staat bekommen hätten.
Irak braucht eine neue „Logik des Zusammenlebens“
Die Christen hätten immer mitten in alldem gelebt, sie hätten aber niemals im Irak Gebietsansprüche erhoben, betont Filoni. Ihre Wünsche seien immer gewesen, dort nach ihren Traditionen leben zu können, wo sie waren. Aber das seien keine politischen oder administrativen Forderungen gewesen. „Wir müssen aus der Logik heraus, in der man sich nur mit den Grenzen von Staaten identifiziert und in eine Logik des Zusammenlebens hinein, wo es tiefen Respekt vor dem jeweils anderen gibt. Und das ist dann keine Toleranz, sondern der Respekt vor den Rechten der Anderen. Toleranz ist nur etwas, was ich gewähre. Wenn wir zu einer neuen Logik kommen, welche die Rechte aller anerkennt, die Menschenrechte, die sozialen Rechte, die politischen Rechte, dann kann daraus ein Zusammenleben entstehen.“
Leider herrsche im Augenblick eine Logik, in der die jeweilige Mehrheit ihre Macht wie in einer Diktatur ausübe. „Hier muss es einen Mentalitätswechsel geben, aber dafür braucht es Zeit." Die Basis dazu sei aber etwas, das im Irak zur Zeit radikal fehlt. Filoni: „Wenn es keinen Frieden gibt und wenn der gute Wille nicht da ist, dann bleiben der Irak und der gesamte Nahe Osten Gegenden, in denen es sehr schwer ist, zu leben.“ (rv)