Kardinal Gerhard Ludwig Müller bemüht sich um Ausgleich im innerkatholischen Streit um den Weg der Familienseelsorge, den Papst Franziskus mit „Amoris Laetitia” eingeschlagen hat. Das päpstliche Schreiben habe „polarisierende Thesen” über eine eventuelle Wiederzulassung zur Kommunion von Geschiedenen in zivilen Zweitehen hervorgerufen, und diese Thesen bedrohten „die Einheit der Kirche”, beklagt der Kardinal im Vorwort zu einem neuen Buch des italienischen katholischen Politikers Rocco Buttiglione. In einzelnen Fällen sei der Empfang der Sakramente der Buße und der Kommunion für Gläubige in sogenannten irregulären Lebenssituationen möglich, schreibt Müller.
Der Kardinal geht damit auf klare Distanz zu dem als „Dubia“ bekannt gewordenen Brief von vier Kardinälen, die dem Papst das Abrücken von der überlieferten katholischen Lehre in Fragen der Moral vorwerfen. „Amoris Laetitia” stehe keineswegs im Gegensatz zur überlieferten Lehre, führt Kardinal Müller aus. Im Gegenteil bestätige das Schreiben die „innere und äußere Unauflöslichkeit der sakramentalen Ehe“.
Zu vermeiden: „kalte Anwendung der dogmatischen Gebote und kirchenrechtlichen Vorschriften“
Es gebe aber Lebenslagen, in denen ein verlassener Ehepartner „keinen anderen Ausweg findet, als sich einem gutherzigen Menschen anzuvertrauen“, schreibt Müller. Das Ergebnis seien „eheähnliche Beziehungen“. Hier brauche ein Beichtvater viel geistliches Unterscheidungsvermögen, um mit dem Betroffenen einen Weg der Umkehr zu finden, der nicht in Extreme fällt, so der Kardinal. Zu vermeiden sei eine „billige Anpassung an den relativistischen Zeitgeist“, aber auch „eine kalte Anwendung der dogmatischen Gebote und der kirchenrechtlichen Vorschriften“.
Ein Punkt, den Kritiker an „Amoris Laetitia“ oft nicht recht verstünden, sei das Gesetz der Gradualität, fährt Müller fort. Graduell sei natürlich nicht das Gesetz, sondern seine Anwendung auf einen konkreten Menschen in seinen konkreten Lebensumständen. „Gott ist dem Menschen besonders nahe, der sich auf dem Weg der Umkehr macht, der zum Beispiel die Verantwortung für die Kinder einer Frau übernimmt, die nicht seine rechtmäßige Ehefrau ist, und der auch nicht die Pflicht vernachlässigt, sich um die Frau zu sorgen. Das gilt auch für den Fall, in dem er […] noch nicht dazu in der Lage ist, alle Erfordernisse des moralischen Gesetzes zu erfüllen.“ Zwar sei eine in sich sündhafte Handlung deshalb weder legitim noch gottgefällig, so Kardinal Müller, doch könne ihre Anrechenbarkeit als Schuld gemindert werden, „wenn der Sünder sich an die Barmherzigkeit Gottes wendet“ und „mit demütigem Herzen“ um Erbarmen bitte.
Priester sollen Menschen in irregulärer Situation nicht öffentlich demütigen
Der Priester könne auch nicht einen Menschen in irregulärer Situation öffentlich demütigen, indem er ihm öffentlich die Kommunion verweigert und seinen Namen vor der Gemeinde beschädigt, so Müller weiter. „In den Umständen des heutigen sozialen Lebens könnte es schwierig sein zu bestimmen, wer ein Sünder ist.“ Zwar müsse der Priester allgemein dazu ermahnen, nicht ohne Beichte zur Kommunion zu gehen, doch nach der Lossprechung in der Beichte „darf die Heilige Kommunion nicht einmal öffentlichen Sündern verwehrt werden“, erinnerte der Kardinal.
Müller, der als weithin respektierter Dogmatiker bis Juli des Jahres die vatikanische Glaubenskongregation leitete, lud Kritiker wie allzu verwegene Interpreten von „Amoris Laetitia“ dazu ein, das päpstliche Schreiben gemeinsam „ohne gegenseitige Vorwürfe und Verdächtigungen“ und im Licht der Tradition zu lesen. Es brauche auch eine „brennende pastorale Sorge für alle jene, die sich in schwierigen Ehe- und Familiensituationen befinden und besonders die mütterliche Unterstützung der Kirche brauchen“.
Buttigliones Buch „Wohlmeinende Antworten auf Kritiker von ‚Amoris laetitia'“ erscheint in Italien am 10. November. Die Zeitung „La Stampa” veröffentlichte vorab lange Auszüge aus Kardinal Müllers Vorwort. (rv)