Neues Vatikan-Dokument: „Oeconomicae et pecuniariae Quaestiones“

Der Präfekt der Kongregation für die Glaubenslehre sowie der Präfekt des Dikasteriums für den Dienst zugunsten der ganzheitlichen Entwicklung des Menschen veröffentlichten heute ein neues Dokument mit dem Titel:

„Oeconomicae et pecuniariae Quaestiones “ (Erwägungen zu einer ethischen Unterscheidung bezüglich einiger Aspekte es gegenwärtigen Finanzwirtschaftssystems).

Das Dokument wurde von Papst Franziskus in einer Audienz am 06. Januar approbiert und seine Veröffentlichung angeordnet.

Vaticanhistory gibt hier den Originaltext (ohne Fußnoten) aus dem Bulletin vom 17. Mai 2018 wieder:

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Oeconomicae et pecuniariae quaestiones
Erwägungen zu einer ethischen Unterscheidung bezüglich einiger Aspekte
des gegenwärtigen Finanzwirtschaftssystems

I. Einführung

1. Themen im Bereich der Ökonomie und der Finanzwirtschaft stehen heute mehr denn je im Fokus unseres Interesses. Grund dafür ist der wachsende Einfluss, den die Märkte auf den materiellen Wohlstand eines großen Teils der Menschheit ausüben. Das macht einerseits eine entsprechende Regulierung ihrer Dynamiken erforderlich. Andererseits bedarf es einer klaren ethischen Grundlage, die dem erreichten Wohlstand jene Qualität an menschlichen Beziehungen gewährt, welche die wirtschaftlichen Mechanismen allein nicht hervorbringen können. Eine solche ethische Grundlage wird heute von verschiedener Seite eingefordert, besonders von jenen, die in der Finanzwirtschaft tätig sind. Gerade in diesem Bereich zeigt sich nämlich, wie notwendig die Verbindung zwischen technischem Wissen und menschlicher Weisheit ist, ohne die alles menschliche Tun zum Scheitern verurteilt ist. Wo aber diese Verbindung gegeben ist, kann es für den Menschen ein Voranschreiten auf dem Weg eines realen, ganzheitlichen Wohlstands geben.

2. Die ganzheitliche Förderung jeder Person, jeder menschlichen Gemeinschaft und der ganzen Menschheit ist der letzte Horizont jenes Gemeinwohls, das die Kirche als «allumfassendes Heilssakrament»[1] verwirklichen möchte. In diesem ganzheitlichen Wohl, dessen Ursprung und Vollendung letztendlich in Gott liegen und das in Jesus Christus, in dem alles zusammengefasst ist (vgl. Eph 1,10), vollkommen offenbart wurde, liegt der letzte Zweck allen kirchlichen Tuns. Dieses Wohl ist eine Vorwegnahme jenes Reiches Gottes, das die Kirche zu verkünden und in jedem Bereich menschlichen Wirkens aufzurichten gerufen ist[2]. Und es ist die besondere Frucht jener Liebe, die als Königsweg des kirchlichen Handelns auch im sozialen, zivilen und politischen Bereich zum Ausdruck kommen muss. Diese Liebe «zeigt sich bei allen Gelegenheiten, die zum Aufbau einer besseren Welt beitragen. Die Liebe zur Gesellschaft und das Engagement für das Gemeinwohl sind ein hervorragender Ausdruck der Nächstenliebe, die nicht nur die Beziehungen zwischen den einzelnen Menschen angeht, sondern auch die „Makro-Beziehungen – in gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Zusammenhängen“. Darum schlug die Kirche der Welt das Ideal der „Kultur der Liebe“ vor»[3]. Die Liebe zum ganzheitlichen Wohl, die untrennbar mit der Liebe zur Wahrheit verbunden ist, bildet den Schlüssel zum wahren Fortschritt.

3. Erstrebt wird dies in der Gewissheit, dass es in allen Kulturen zahlreiche ethische Konvergenzen gibt, die Ausdruck einer gemeinsamen moralischen Weisheit sind[4], auf deren objektive Ordnung die Würde der Person gegründet ist. In der soliden, unverfügbaren Basis dieser Ordnung, die klare gemeinsame Prinzipien bietet, wurzeln die grundlegenden Rechte und Pflichten des Menschen. Ohne diese Ordnung gewinnen Willkür und „das Recht des Stärkeren“ in den menschlichen Beziehungen die Oberhand. Diese in der Weisheit des Schöpfergottes verwurzelte ethische Ordnung ist also das unentbehrliche Fundament für den Aufbau einer menschenwürdigen Gesellschaft, die von Gesetzen geregelt wird, deren Maßstab wirkliche Gerechtigkeit ist. Dies gilt umso mehr, wenn wir bedenken, dass die Menschen in ihrem Herzen zwar nichts mehr ersehnen als das Wohl und die Wahrheit, sich aber doch oft parteilichen Interessen beugen und zu Missbräuchen und Ungerechtigkeiten hinreißen lassen, die der ganzen Menschheit, vor allem den Wehrlosen und Schwachen, unsägliches Leid zufügen.

Um alle Bereiche des Lebens von dieser moralischen Unordnung zu befreien, die das menschliche Tun so oft in Mitleidenschaft zieht, betrachtet die Kirche es als eine ihrer vorrangigen Aufgaben, alle Menschen mit demütiger Gewissheit an einige klare ethische Prinzipien zu erinnern. Die menschliche Vernunft, die jede Person unverkennbar auszeichnet, erfordert in dieser Hinsicht eine Unterscheidung, die Klarheit bringt. Denn schon immer sucht die Vernunft des Menschen in der Wahrheit und in der Gerechtigkeit jenes solide Fundament, auf welches sich das menschliche Tun stützen kann. Sie ahnt, dass sie ohne dieses Fundament ihre Ausrichtung verlieren würde[5].

4. Die rechte Ausrichtung der Vernunft darf also in keinem Bereich des menschlichen Tuns fehlen. Das bedeutet, dass kein Bereich des menschlichen Handelns rechtmäßig beanspruchen kann, ohne eine Ethik auszukommen oder für eine Ethik unzugänglich zu sein, die auf Freiheit, Wahrheit, Gerechtigkeit und Solidarität gegründet ist[6]. Dies trifft auch auf jene Bereiche zu, in denen die Gesetze der Politik und der Wirtschaft gelten: «Im Hinblick auf das Gemeinwohl besteht für uns heute die dringende Notwendigkeit, dass Politik und Wirtschaft sich im Dialog entschieden in den Dienst des Lebens stellen, besonders in den des menschlichen Lebens»[7].

In der Tat soll jede menschliche Tätigkeit Frucht bringen, indem der Mensch großzügig und gerecht jene Gaben gedeihen lässt, die Gott ursprünglich allen zur Verfügung gestellt hat, und mit reger Zuversicht jene Samen des Guten aussät, die als Verheißung der Fruchtbarkeit in die gesamte Schöpfung eingeschrieben sind. Dieser Ruf ist eine bleibende Einladung an die menschliche Freiheit, auch wenn die Sünde immer danach trachtet, diesen ursprünglichen Plan Gottes zu vereiteln.

Das ist der Grund, weshalb Gott dem Menschen in Jesus Christus entgegen kommt. Indem er uns in das wunderbare Ereignis seiner Auferstehung hineinnimmt, «erlöst er nicht nur die Einzelperson, sondern auch die sozialen Beziehungen»[8], und wirkt auf eine neue – in Wahrheit und Liebe gegründete – Ordnung gesellschaftlicher Beziehungen hin, die fruchtbarer Sauerteig für die Verwandlung der Geschichte sein kann. Auf diese Weise gibt Christus uns schon in dieser Zeit einen Vorgeschmack auf jenes Himmelreich, das anzukündigen er selbst als Mensch auf die Erde gekommen ist.

5. Obwohl der wirtschaftliche Wohlstand in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts überall auf der Welt in einem nie gekannten Ausmaß und Tempo zugenommen hat, ist zu bedenken, dass im selben Zeitraum die Ungleichheiten zwischen den Ländern und innerhalb der Länder größer geworden sind[9]. Auch ist die Zahl der Menschen, die in extremer Armut leben, nach wie vor ungeheuer hoch.

Die jüngste Finanzkrise hätte uns die Gelegenheit bieten können, eine neue Wirtschaft zu entwickeln, die größeren Wert auf ethische Prinzipien legt und die Finanzgeschäfte neuen Regelungen unterwirft, um ausbeuterischen und spekulativen Absichten einen Riegel vorzuschieben und den Dienst an der Realwirtschaft in den Vordergrund zu stellen. Wenn auch auf verschiedenen Ebenen viele positive Schritte gemacht wurden, die Anerkennung und Wertschätzung verdienen, ist ein Überdenken jener überholten Kriterien, die immer noch die Welt beherrschen, ausgeblieben[10]. Manchmal hat es sogar den Anschein, als wäre ein oberflächlicher, kurzsichtiger Egoismus zurückgekehrt, der das Gemeinwohl missachtet und nicht daran interessiert ist, Wohlstand zu schaffen und zu verbreiten oder stark ausgeprägte Ungerechtigkeiten zu beseitigen.

6. Was hier auf dem Spiel steht, ist der authentische Wohlstand eines Großteils der Männer und Frauen unseres Planeten, die Gefahr laufen, immer mehr an den Rand gedrängt, ja sogar von Fortschritt und wirklichem Wohlstand «ausgeschlossen» und wie «Abfall»[11] behandelt zu werden. Denn einige wenige beuten wertvolle Ressourcen und Reichtümer aus und beanspruchen diese für sich selbst, ohne auf das Wohl des Großteils ihrer Mitmenschen Rücksicht zu nehmen. Es ist daher an der Zeit, das Augenmerk wieder auf die wahre Menschlichkeit zu richten, die Horizonte von Geist und Herz zu erweitern, um in Redlichkeit die Erfordernisse der Wahrheit und des Gemeinwohls zu erkennen, ohne die jedes soziale, politische und wirtschaftliche System am Ende zum Scheitern, zur Implosion verurteilt ist. Wie immer deutlicher wird, macht sich Egoismus auf lange Sicht nicht bezahlt, sondern bewirkt letzten Endes nur, dass alle einen viel zu hohen Preis zahlen müssen. Wenn wir also das wirkliche Wohl des Menschen wollen, dann dürfen wir nicht vergessen: «Das Geld muss dienen und nicht regieren!»[12].

In erster Linie obliegt es den kompetenten Führungskräften, neue Wirtschafts- und Finanzsysteme einzuführen, deren Methoden und Regeln die Entwicklung des Gemeinwohls anstreben und auf dem sicheren Pfad der kirchlichen Soziallehre die Menschenwürde achten. Mit diesem Dokument möchte die Kongregation für die Glaubenslehre, deren Zuständigkeit sich auch auf Fragen moralischer Natur bezieht, in Zusammenarbeit mit dem Dikasterium für den Dienst zugunsten der ganzheitlichen Entwicklung des Menschen einige grundlegende Erwägungen und Präzisierungen vorlegen, die dieser Entwicklung und dem Schutz der Menschenwürde zugutekommen sollen[13]. Besonders notwendig erscheint eine ethische Reflexion über einige Aspekte der Finanzvermittlung, deren Loslösung von angemessenen anthropologischen und moralischen Grundlagen nicht nur offensichtliche Missbräuche und Ungerechtigkeiten zur Folge hatte, sondern auch Systemkrisen von weltweitem Ausmaß verursacht hat. Es geht um eine Unterscheidung, die allen Männern und Frauen guten Willens angeboten wird.

II. Grundlegende Erwägungen

7. Einige grundlegende Erwägungen stehen heute all jenen deutlich vor Augen, welche die geschichtliche Situation, in der wir leben, ehrlich zur Kenntnis nehmen. Diese gelten unabhängig von allen Theorien und Denkschulen, in deren legitime Diskussionen dieses Dokument nicht eingreifen, sondern zu deren Dialog es vielmehr beitragen will. Dabei muss man sich freilich bewusst bleiben, dass es keine wirtschaftlichen Patentrezepte gibt, die immer und überall gelten.

8. Jede menschliche Realität und Tätigkeit ist positiv, wenn sie im Horizont einer angemessenen Ethik gelebt wird, also im Respekt vor der Menschenwürde und mit Blick auf das Gemeinwohl. Das gilt für alle Institutionen, die im Zusammenleben der Menschen entstehen. Es gilt auch für die Märkte auf allen Ebenen, einschließlich der Finanzmärkte.

In diesem Zusammenhang ist anzumerken, dass auch jene Systeme, die aus den Märkten hervorgehen, nicht so sehr auf anonyme Dynamiken gegründet sind, welche durch immer kompliziertere Techniken entstehen, sondern auf Beziehungen, die ohne das Mitwirken der Freiheit einzelner Menschen nicht aufgebaut werden könnten. Daraus ergibt sich, dass die Wirtschaft, wie jedes andere menschliche Tun, «für ihr korrektes Funktionieren die Ethik braucht; nicht irgendeine Ethik, sondern eine menschenfreundliche Ethik» [14].

9. Es ist klar, dass es ohne eine angemessene Sicht des Menschen nicht möglich ist, eine Ethik oder eine Praxis zu begründen, die dem hohen Anspruch der Menschenwürde und eines Wohls, das wirklich das Wohl aller ist, entspricht. Alles menschliche Tun – auch im wirtschaftlichen Bereich –, so neutral oder von jeder Grundvorstellung losgelöst es auch zu sein vorgibt, impliziert doch immer ein Verständnis des Menschen und der Welt, das seine positive oder negative Ausrichtung durch seine Auswirkungen und den hervorgebrachten Fortschritt zeigt.

In diesem Sinn zeigt sich in unserer Zeit eine verkürzte Sicht des Menschen: nämlich jene des individualistisch verstandenen Menschen, der in erster Linie Konsument ist und dessen Gewinn vor allem in der Optimierung seiner finanziellen Einkünfte bestünde. Die menschliche Person besitzt aber eine ureigene relationale Natur und eine Rationalität, die immer nach einem Gewinn und einem Wohlergehen streben, welche umfassend sind und nicht auf die Logik des Konsums oder die wirtschaftlichen Aspekte des Lebens reduziert werden können[15].

Diese grundlegend relationale Natur des Menschen[16] ist wesentlich von einer Rationalität gekennzeichnet, die jeder Reduzierung seiner Grundbedürfnisse auf bloße Dinge entgegensteht. Diesbezüglich kann nicht mehr verschwiegen werden, dass heute die Tendenz besteht, jeden Austausch von Gütern auf einen bloßen Austausch von Dingen zu reduzieren.

In Wirklichkeit ist es offenkundig, dass es bei der Weitergabe von Gütern unter Menschen immer um mehr geht als um rein materielle Dinge. Schließlich sind die materiellen Güter oft Träger anderer – immaterieller – Werte, deren konkretes Vorhanden- oder Nicht-Vorhandensein auch die Qualität der wirtschaftlichen Beziehungen entscheidend beeinflusst (zum Beispiel Vertrauen, Gerechtigkeit, Zusammenarbeit, usw.). Gerade hier wird deutlich, dass die Logik des Geschenks ohne Gegenleistung keine Alternative zum Austausch von einander entsprechenden Gütern ist, sondern komplementär und untrennbar damit verbunden[17].

10. Leicht können die Vorteile einer Sicht des Menschen erkannt werden, in der die Person als Wesen verstanden wird, das konstitutiv in ein Geflecht von Beziehungen eingebunden ist, welche eine an sich positive Ressource sind[18]. Jede Person wird in einem familiären Umfeld geboren, also in einem Netz von Beziehungen, die ihr vorausgehen und ohne die sie nicht existieren würde. Die Etappen ihres Lebens geht sie stets dank der Beziehungen, die ihr Dasein in der Welt als Form einer immer wieder neu geteilten Freiheit verwirklichen. Gerade diese ursprünglichen Beziehungen zeigen, dass der Mensch ein relationales Wesen ist und grundlegend von dem geprägt wird, was die christliche Offenbarung „Gemeinschaft“ nennt.

Dieser ureigene gemeinschaftliche Wesenszug, der in jedem Menschen eine Spur der Affinität mit jenem Gott aufzeigt, der ihn erschaffen hat und zu einer Beziehung der Gemeinschaft mit sich ruft, richtet ihn zugleich auf natürliche Weise auf das gemeinschaftliche Leben aus, das der grundlegende Ort seiner vollen Verwirklichung ist. Diesen Wesenszug als ursprünglich konstitutives Element unserer menschlichen Identität zu erkennen, macht es möglich, die anderen nicht in erster Linie als potentielle Konkurrenten zu sehen, sondern als mögliche Verbündete im Aufbau eines Wohls, das erst dann echt ist, wenn es alle und jeden Einzelnen zugleich betrifft.

Eine solche Anthropologie der Beziehungen hilft dem Menschen, den Wert von wirtschaftlichen Strategien zu erkennen, die vor allem die globale Lebensqualität im Blick haben, und nicht bloß die kritiklose Anhäufung von Profit. Es geht also um ein Wohl, das – wenn es ein solches sein soll – immer ganzheitlich ist, das den ganzen Menschen und alle Menschen betrifft. Kein Profit ist nämlich rechtmäßig, wenn der Horizont der ganzheitlichen Förderung der menschlichen Person, der universalen Bestimmung der Güter und der vorrangigen Option für die Armen fehlt[19]. Diese drei Prinzipien sind eng miteinander verflochten. Sie bedingen einander im Mühen um den Aufbau einer Welt, die gerechter und solidarischer ist.

Deswegen kann kein wirtschaftliches System als Fortschritt verstanden werden, wenn es allein von den Maßstäben der Quantität und der Effizienz beim Schaffen von Profit ausgeht. Vielmehr muss es auch nach der Lebensqualität bemessen werden, die es hervorbringt, und nach dem sozialen Wohlstand, den es verbreitet: einem Wohlstand, der nicht auf bloß materielle Aspekte reduziert werden darf. Jedes Wirtschaftssystem rechtfertigt seine Existenz nämlich nicht nur durch rein quantitatives Wachstum des wirtschaftlichen Austausches, sondern vor allem durch seine Eignung, die Entwicklung des ganzen Menschen und aller Menschen zu gewährleisten. Wohlstand und Entwicklung brauchen und stützen einander[20]. Das macht nachhaltige politische Maßnahmen und Perspektiven erforderlich, die weit über den gegenwärtigen Moment hinausgehen[21].

Zu diesem Zweck ist es wünschenswert, dass die Universitäten und Business Schools – nicht nur am Rand oder nebenbei, sondern als festen Bestandteil – in ihren Lehrplänen Ausbildungskurse vorsehen, die dazu helfen, Ökonomie und Finanzwirtschaft im Licht einer ganzheitlichen und nicht bloß auf einige Dimensionen reduzierten Sicht des Menschen sowie einer Ethik, die diese ausdrückt, zu verstehen. Eine große Hilfe bietet in diesem Sinn beispielsweise die kirchliche Soziallehre.

11. Der Wohlstand muss daher an Kriterien gemessen werden, die weit über das Bruttoinlandsprodukt (BIP) eines Landes hinausgehen und auch andere Maßstäbe in Betracht ziehen, wie zum Beispiel Sicherheit, Gesundheit, Wachstum des „menschlichen Kapitals“, Qualität des gesellschaftlichen Lebens und der Arbeit. Der Profit wird zwar immer angestrebt werden, doch nie „um jeden Preis“ und nie als alleiniger umfassender Bezugspunkt des wirtschaftlichen Handelns.

Wichtig sind dabei humanisierende Denkmuster sowie kulturelle Ausdrucksformen und Mentalitäten, in denen die Unentgeltlichkeit – also die Entdeckung und Umsetzung des Wahren und Gerechten als etwas in sich Gutes – zur Bemessungsgrundlage wird[22] und wo Gewinn und Solidarität nicht länger Dinge sind, die einander widersprechen. Wo nämlich Egoismus und parteiliche Interessen vorherrschen, ist es für den Menschen schwer, jenen fruchtbaren Kreislauf zwischen Gewinn und Gabe zu erkennen, den die Sünde zu verdunkeln und zu durchbrechen droht. In einer wahrhaft menschlichen Perspektive entsteht hingegen ein positiver Kreislauf zwischen Profit und Solidarität, der dank des freien Tuns des Menschen das ganze positive Potential der Märkte freisetzen kann.

Wie sehr dieses Prinzip der Unentgeltlichkeit dem Menschen entspricht, zeigt auch die Goldene Regel, die Jesus im Evangelium formuliert hat und nach der wir eingeladen sind, alles, was wir von anderen erwarten, auch ihnen zu tun (vgl. Mt 7, 12; Lk 6, 31).

12. Kein wirtschaftliches Tun kann lange Bestand haben, wenn es nicht ein Klima gesunder Handlungsfreiheit gibt[23]. Heute ist aber ebenso klar: Wenn die Freiheit der Wirtschaftstreibenden absolut verstanden und von dem ihr innewohnenden Bezug zur Wahrheit und zum Guten losgelöst wird, dann tendiert sie zur Schaffung von Machtzentren und Formen von Oligarchie, die letztendlich der Effizienz des Wirtschaftssystems schaden[24].

In dieser Hinsicht ist immer deutlicher zu sehen, wie angesichts der wachsenden, alles durchdringenden Macht einflussreicher Marktakteure und großer finanzwirtschaftlicher Netzwerke jene, die eigentlich mit der Ausübung der politischen Macht betraut sind, nur noch mit Mühe ihrer ursprünglichen Berufung entsprechen, Diener des Gemeinwohls zu sein. Oft sind sie durch die Übernationalität dieser Akteure und die Volatilität des von ihnen verwalteten Kapitals desorientiert und ohnmächtig gemacht. Manchmal lassen sie sich auch dazu hinreißen, sich dem Gemeinwohl widersprechenden Interessen zu unterwerfen[25].

All das macht ein erneuertes Bündnis zwischen Akteuren der Wirtschaft und der Politik umso dringlicher. Es geht um die Förderung dessen, was der umfassenden Entwicklung des Menschen und der gesamten Gesellschaft dient, wobei auch die Anforderungen der Solidarität mit jenen der Subsidiarität zu verbinden sind[26].

13. Prinzipiell sind alle Systeme und Mittel, welche die Märkte nutzen, um ihre Verteilungskapazitäten zu vermehren, moralisch zulässig, insofern sie die Menschenwürde und die Ausrichtung auf das Gemeinwohl achten[27].

Ebenso offensichtlich ist aber auch, dass das mächtige Triebwerk der Wirtschaft, nämlich die Märkte, nicht imstande ist, sich selbst zu regulieren[28]. Denn die Märkte können nicht die Voraussetzungen schaffen, die ihren ordnungsgemäßen Ablauf garantieren (sozialer Zusammenhalt, Aufrichtigkeit, Vertrauen, Sicherheit, Gesetze, usw.), und auch nicht die Wirkungen und Ausdrucksformen korrigieren, die der menschlichen Gesellschaft zum Schaden gereichen (Ungleichheiten, Asymmetrien, Schädigung der Umwelt, soziale Unsicherheit, Betrug, usw.).

14. Auch wenn viele Akteure persönlich von guten und berechtigten Absichten geleitet sind, darf auch nicht unbeachtet bleiben, dass die Finanzindustrie heute aufgrund ihrer Verbreitung und ihrer unstrittigen Kapazität, die Realwirtschaft zu beeinflussen und – in gewissem Sinn – zu dominieren, ein Ort ist, wo Egoismen und Missbräuche ein für die Allgemeinheit zerstörerisches Potential haben, das seinesgleichen sucht.

An dieser Stelle muss darauf verwiesen werden, dass es in der Finanzwirtschaft Situationen gibt, in denen einige Vorgangsweisen zwar vielleicht nicht unmittelbar als ethisch inakzeptabel bewertet werden können, aber doch Fälle von unmittelbarer Nähe zur Unmoral darstellen. Das sind Situationen, in denen es sehr leicht zu Missbrauch und Betrug kommt, vor allem gegenüber denen, die sich in einer weniger günstigen Ausgangslage befinden. Wenn man beispielsweise in einer Situation der Asymmetrie mit Finanzmitteln handelt, die an sich legitim sind, dabei aber Wissenslücken oder vertragliche Schwächen einer beteiligten Partei ausnützt, ist dies ein Vergehen gegen die geschuldete Korrektheit in der Beziehung und deshalb bereits ein ethisch schwerwiegender Verstoß.

Die Komplexität zahlreicher Finanzprodukte macht diese Asymmetrie in der gegenwärtigen Situation zu einem dem System selbst innewohnenden Aspekt. Dies setzt die Käufer in eine Position der Unterlegenheit gegenüber den Fachleuten, die mit diesen Produkten wirtschaften. Aus diesem Grund wurde von verschiedener Seite verlangt, den alten Grundsatz Caveat emptor aufzugeben. Gemäß diesem Grundsatz würde vor allem dem Käufer die Verantwortung zukommen, die Qualität des erworbenen Gutes festzustellen. Dieses Prinzip setzt voraus, dass die Parteien die gleiche Fähigkeit besitzen, die Eigeninteressen zu schützen. Dies ist aber heute in vielen Fällen nicht gegeben, und zwar sowohl wegen der offensichtlich hierarchischen Beziehung, die manche Arten von Verträgen mit sich bringen (zum Beispiel zwischen Darlehensgeber und Darlehensnehmer), als auch wegen der komplexen Strukturierung zahlreicher Finanzinstrumente.

15. Wie viele Dinge, die der Mensch besitzt, ist auch das Geld an sich ein gutes Mittel, das seiner Freiheit zur Verfügung steht und der Erweiterung seiner Möglichkeiten dient. Dieses Mittel kann sich aber leicht gegen den Menschen kehren. So ist auch die Finanzierung von Unternehmen am freien Kapitalmarkt, der Unternehmen durch den Eintritt in den freien Handel der Börse Zugang zum Geld ermöglicht, an sich positiv. Dieses Phänomen läuft heute jedoch Gefahr, die Finanzialisierung der Wirtschaft zu begünstigen. Denn der virtuelle Reichtum, der sich vor allem auf Transaktionen konzentriert, die durch bloße Spekulationsabsichten und durch Hochfrequenzhandel (High Frequency Trading) gekennzeichnet sind, zieht exzessive Kapitalmengen an sich und entzieht diese so dem positiven Kreislauf der Realwirtschaft[29].

Was vor mehr als einem Jahrhundert vorausgesagt wurde, hat sich leider inzwischen bewahrheitet: Der Ertrag aus dem Kapital stellt eine echte Bedrohung dar und riskiert, den Ertrag aus der Arbeit zu überrunden, der im Wirtschaftssystem oft nur noch eine Randbedeutung hat. Daraus folgt, dass die Arbeit mit ihrer Würde nicht nur immer stärker bedroht ist, sondern auch Gefahr läuft, nicht länger ein Gut für den Menschen zu sein[30], sondern zu einem bloßen Tauschmittel im Inneren von asymmetrisch gemachten sozialen Beziehungen zu werden.

In dieser Umkehrung der Beziehung zwischen Mittel und Zweck, die das Gut der Arbeit zur „Ware“ degradiert und in der das Geld vom Mittel zum „Zweck“ wird, findet die skrupellose amoralische „Wegwerfkultur“ fruchtbaren Boden, die breite Massen der Bevölkerung ausgegrenzt hat, sie einer würdigen Arbeit beraubt und sie so «ohne Aussichten, ohne Ausweg» lässt: «Es geht nicht mehr einfach um das Phänomen der Ausbeutung und der Unterdrückung, sondern um etwas Neues: Mit der Ausschließung ist die Zugehörigkeit zu der Gesellschaft, in der man lebt, an ihrer Wurzel getroffen, denn durch sie befindet man sich nicht in der Unterschicht, am Rande oder gehört zu den Machtlosen, sondern man steht draußen. Die Ausgeschlossenen sind nicht „Ausgebeutete“, sondern Müll, „Abfall“»[31].

16. In diesem Zusammenhang kommt man nicht umhin, an die unverzichtbare soziale Funktion des Kredits zu denken, dessen Gewähr in erster Linie qualifizierten und zuverlässigen Finanzintermediären obliegt. In diesem Bereich scheint klar, dass die Festsetzung unangemessen hoher, für die Darlehensnehmer nicht tragbarer Zinsraten nicht nur unter ethischem Gesichtspunkt unzulässig ist, sondern auch der Gesundheit des Wirtschaftssystems schadet. Das menschliche Gewissen hat solche Vorgehensweisen und Wucherpraktiken schon immer als ungerecht empfunden. Sie stehen auch dem guten Funktionieren des Wirtschaftssystems entgegen.

Hier zeigt sich, dass die Sendung der Finanzwirtschaft vor allem darin besteht, der Realwirtschaft zu dienen. Sie hat die Aufgabe, mit moralisch legitimen Mitteln Werte zu schaffen und eine Liquidierung des Kapitals zu begünstigen, damit ein nützlicher Kreislauf des Reichtums entstehen kann[32]. Überaus positiv und fördernswert sind in diesem Zusammenhang beispielsweise Kreditunionen, Mikrokredite, wie auch öffentliche Kredite, die Familien, Unternehmen und lokalen Gemeinschaften zugutekommen, sowie Hilfskredite für Entwicklungsländer.

Nirgends wird deutlicher als in diesem Bereich, in dem das Geld sein ganzes positives Potential entfalten kann, dass es unter ethischem Gesichtspunkt nicht legitim ist, von der Zivilgesellschaft gewährte Kredite einem ungebührlich hohen Risiko auszusetzen, indem man sie für vorwiegend spekulative Zwecke nutzt.

17. Ein unter ethischem Gesichtspunkt unannehmbares Phänomen ist nicht der Gewinn an sich, sondern das Ausnutzen einer Asymmetrie zu eigenen Gunsten, um beträchtliche Profite zum Schaden anderer anzuhäufen. Das geschieht, wenn jemand die eigene Machtposition ungerecht zum Nachteil anderer ausnutzt, oder wenn jemand sich bereichert, indem er den allgemeinen Wohlstand schädigt oder stört[33].

Ein solches Vorgehen erweist sich als moralisch besonders beklagenswert, wenn sich die nur auf Gewinn ausgerichtete Absicht einiger weniger – vielleicht durch beträchtliche Investmentfonds – mit einer gewagten Spekulation[34], die auf eine künstliche Senkung der Preise für Staatsanleihen abzielt, bedenkenlos darüber hinwegsetzt, dass die wirtschaftliche Lage ganzer Länder negativ, ja sogar dramatisch beeinflusst werden kann. Auf diese Weise setzt man nicht nur öffentliche Sanierungsprojekte aufs Spiel, sondern auch die wirtschaftliche Stabilität von Millionen von Familien. Das zwingt wiederum die Regierungen, mit großen Summen öffentlicher Gelder einzugreifen, und führt dazu, dass sogar auf das korrekte Funktionieren der politischen Systeme künstlich Einfluss genommen wird.

Die Spekulationsabsicht läuft heute besonders im finanzwirtschaftlichen Bereich Gefahr, alle anderen grundlegenden Absichten zu verdrängen, die der menschlichen Freiheit Substanz verleihen. Dieser Umstand untergräbt den immensen Wertereichtum, der das Fundament unserer Zivilgesellschaft bildet und sie zu einem Ort des friedlichen Zusammenlebens, der Begegnung, der Solidarität, der regenerierenden Reziprozität und der Verantwortung für das Gemeinwohl macht. In diesem Zusammenhang hat es den Anschein, dass Worte wie „Effizienz“, „Wettbewerb“, „Leadership“, „Verdienst“ den ganzen Raum unserer gesellschaftlichen Kultur beherrschen und eine Bedeutung erlangen, die letztendlich zur Verarmung der Qualität der Tauschgeschäfte führt und diese auf bloße Zahlenspiele reduziert.

Es ist daher notwendig, dass der Mensch wieder in den Mittelpunkt gestellt wird, damit die Horizonte für jenen Überfluss an Werten geöffnet werden können, der allein es dem Menschen erlaubt, sich selbst zu finden, Gesellschaften aufzubauen, die Orte der Gastfreundschaft und der Inklusion sind, wo es Raum gibt für die Schwachen und wo der Reichtum zum Vorteil aller genutzt wird. Es braucht Orte, wo es für den Menschen schön ist zu leben, und leicht ist zu hoffen.

III. Einige Präzisierungen im heutigen Kontext

18. Um allen Akteuren aus Ökonomie und Finanzwirtschaft, auch auf deren Bitten hin, konkrete ethische Bezugspunkte anzubieten, sollen nun einige Präzisierungen vorlegt werden. Dabei geht es um eine Unterscheidung, die Wege für das offen hält, was den Menschen wirklich zum Menschen macht und was es ihm verbietet, seine Würde und das Gemeinwohl aufs Spiel zu setzen[35].

19. Dank der Fortschritte der Globalisierung und der Digitalisierung kann der Markt heute mit einem großen Organismus verglichen werden, durch dessen Venen wie ein „Lebenssaft“ gewaltige Mengen von Kapital fließen. Wenn wir diese Analogie beibehalten, können wir auch von einer „Gesundheit“ dieses Organismus sprechen: Dies trifft dann zu, wenn seine Mittel und Strukturen das gute Funktionieren des Systems garantieren, in dem Wachstum und Verbreitung des Reichtums miteinander Schritt halten. Die Gesundheit des Systems hängt von der Gesundheit der einzelnen Handlungen ab, die vorgenommen werden. Wenn das System Markt gesund ist, dann ist es leichter, dass auch die Würde der Menschen und das Gemeinwohl geachtet und gefördert werden.

Wenn hingegen nicht vertrauenswürdige Wirtschafts- und Finanzinstrumente eingesetzt werden, die das Wachstum und die Verbreitung des Reichtums ernsthaft gefährden und sich auch für das System als kritisch und gefährlich erweisen, kann von einer „Vergiftung“ dieses Organismus gesprochen werden.

Das erklärt das heute zunehmend verspürte Bedürfnis, alle Produkte, die eine Finanzinnovation darstellen, durch eine Regulierungsbehörde zertifizieren zu lassen, um die Gesundheit des Systems zu bewahren und negativen Begleiterscheinungen zuvorzukommen. Für alle Akteure, die mit den Märkten zu tun haben, ist es auch unter wirtschaftlicher Rücksicht ein unausweichlicher moralischer Imperativ, die Gesundheit zu fördern und die Vergiftung zu vermeiden. Das wiederum zeigt die Dringlichkeit einer überstaatlichen Koordinierung der verschiedenen Strukturen lokaler Finanzsysteme[36].

20. Diese Gesundheit nährt sich von einer Vielzahl mannigfaltiger Ressourcen, die eine Art wirtschaftliche und finanzielle „Biodiversität“ schaffen. Für das Wirtschaftssystem ist die Diversität ein Mehrwert, der auch durch eine entsprechende Wirtschafts- und Finanzpolitik gefördert und geschützt werden muss. Das Ziel besteht darin sicherzustellen, dass die Märkte über eine Vielzahl gesunder Akteure und Instrumente mit Reichtum und Verschiedenartigkeit verfügen. Das bewirkt einerseits positiv, dass deren Aktivität gefördert wird, und verhindert andererseits, dass das Funktionieren des Systems, das Reichtum hervorbringt und verbreitet, negativ beeinträchtigt wird.

In diesem Zusammenhang ist festzuhalten, dass der Zusammenarbeit bei der Aufgabe, im Innern der Märkte auf gesunde Weise einen Mehrwert hervorzubringen, eine besondere Rolle zukommt. Ein ehrliches und intensives Miteinander der Akteure führt leicht zu jenem Mehr an Wert, das heute jeder Wirtschaftsplan anstrebt[37].

Wenn der Mensch die grundlegende Solidarität erkennt, die ihn mit allen seinen Mitmenschen verbindet, weiß er auch, dass er die Güter, über die er verfügt, nicht für sich allein behalten kann. Ist die Solidarität ein fester Bestandteil seines Lebens, werden die Güter, über die er verfügt, nicht nur für seine eigenen Bedürfnisse verwendet. Sie nehmen zu und tragen so oft auch unerwartet Frucht für die anderen[38]. Gerade hier wird einmal mehr deutlich, dass Gemeinschaft «nicht nur Teilen» ist, «sondern auch Vermehrung der Güter, Herstellung neuen Brotes, neuer Güter, Schaffung des neuen Guten schlechthin»[39].

21. Die Erfahrung der letzten Jahrzehnte hat deutlich gezeigt, wie „naiv“ das Vertrauen in eine vermeintliche funktionelle Unabhängigkeit der Märkte ist, die keiner Ethik unterliegt. Andererseits ist klar, wie notwendig eine angemessene Regelung der Märkte ist, welche die Freiheit und zugleich den Schutz aller gewährleistet, die darin in gesunder und korrekter Weise agieren, vor allem der Schwächeren unter ihnen. In diesem Sinn müssen die politischen Machthaber und die finanzwirtschaftlichen Verantwortungsträger stets unterschieden und unabhängig bleiben, aber zugleich ohne alle schädliche Komplizenschaft danach streben, ein Wohl zu verwirklichen, das der Ausrichtung nach für alle bestimmt ist und nicht nur wenigen privilegierten Akteuren vorbehalten wird[40].

Eine solche Regelung erscheint noch dringlicher, wenn wir bedenken, dass einer der Hauptgründe für die jüngste Finanzkrise das unmoralische Verhalten von Exponenten der Finanzwelt war, und dass es die inzwischen überstaatlich gewordene Dimension des Wirtschaftssystems leicht macht, die in den einzelnen Ländern eingeführten Regeln zu umgehen. Dank der extremen Volatilität und Mobilität des Kapitals in der Finanzwelt ist es jenen, die darüber verfügen, ein Leichtes, sich über jede Norm hinwegzusetzen, die keinen unmittelbaren Profit verspricht. Oft benutzen sie ihre Vormachtstellung auch dazu, sich die jeweilige politische Macht gefügig zu machen.

Es ist also klar, dass die Märkte solide und sichere Orientierungspunkte in Form von Makrovorsichtsmaßregeln und auch von normativen Richtlinien brauchen, die möglichst für alle gelten und einheitlich sein sollten. Ebenso notwendig sind Regeln, die kontinuierlich auf den neuesten Stand zu bringen sind, weil die Situation der Märkte in ständiger Bewegung ist. Ähnliche Orientierungspunkte müssen eine seriöse Kontrolle der Zuverlässigkeit und der Qualität der Finanzinstrumente, vor allem der komplexeren, gewährleisten. Wenn das rasante Tempo der Innovationsprozesse exzessive Systemrisiken mit sich bringt, müssen die Wirtschaftsakteure die Vorgaben und Einschränkungen annehmen, die das Gemeinwohl erfordert, und dürfen nicht versuchen, sie zu umgehen oder herunterzuspielen.

In Anbetracht der heutigen Globalisierung des Finanzsystems erscheint es wichtig, dass sich die Verantwortlichen der einzelnen Länder auf eine stabile, klare und effiziente Regelung der Märkte einigen. Dabei sollte es möglich und manchmal auch geboten sein, im Fall einer eventuellen Gefährdung des Gemeinwohls rasch zu verbindlichen Entscheidungen zu kommen. Die für diese Regelung Verantwortlichen müssen immer unabhängig sein und sich an die Erfordernisse der Gerechtigkeit und des Gemeinwohls gebunden wissen. Verständliche Schwierigkeiten dürfen nicht von der Suche und Umsetzung solcher normativer Systeme abhalten, welche die einzelnen Länder aufeinander abstimmen, die aber auch überstaatliche Geltung haben müssen[41].

Die Regeln müssen eine vollkommene Transparenz der Handelsgeschäfte begünstigen, damit jede Form von Ungerechtigkeit und Missverhältnissen ausgeräumt und das Gleichgewicht der Tauschgeschäfte soweit wie möglich gewährleistet wird. Denn die asymmetrische Konzentration von Information und Macht begünstigt tendenziell die stärkeren wirtschaftlichen Akteure und schafft auf diese Weise Hegemonien, die nicht nur die Märkte, sondern auch die politischen und normativen Systeme einseitig beeinflussen können. Wo eine massive Deregulierung praktiziert wurde, hat sich auch gezeigt, dass normative und institutionelle Leerräume zum Eingehen moralischer Risiken und zur Veruntreuung einladen und auch zu einer irrationalen Überschwänglichkeit der Märkte – auf die zuerst Spekulationsblasen und dann plötzliche verheerende Zusammenbrüche folgen – und zu Systemkrisen führen können[42].

22. Zum Zweck der Vermeidung solcher Systemkrisen wäre es eine große Hilfe, wenn für die Banken eine klare Definition und Abgrenzung zwischen dem Bereich ausgearbeitet würde, der die Verwaltung von gewöhnlichen Bankkrediten und Spareinlagen betrifft, und dem Bereich, der auf Investition und bloßes Business abzielt[43]. Damit sollten so gut wie möglich Situationen vermieden werden, die zu Finanzinstabilität führen.

Ein gesundes Finanzsystem erfordert auch möglichst viel Information, damit jeder seine Interessen in voller und bewusster Freiheit schützen kann: Es ist nämlich wichtig zu wissen, ob das eigene Kapital zu spekulativen Zwecken verwendet wird oder nicht. Auch der Grad des Risikos und die Angemessenheit des Preises für die Finanzprodukte, für die man sich entscheidet, sollten bekannt sein. Denn Spareinlagen, vor allem von Familien, sind normalerweise ein öffentliches Gut, das zu schützen ist und für das eine Optimierung ohne Risiko zu suchen ist. Wenn diese Spareinlagen qualifizierten Finanzfachberatern anvertraut werden, muss man erwarten können, dass sie gut angelegt und nicht nur verwaltet werden.

In der Handhabung der Spareinlagen durch Finanzberater sind folgende Verhaltensweisen als moralisch fragwürdig zu bewerten: eine exzessive Bewegung von Wertpapieren, die vor allem den Zweck verfolgt, die Kommissionen der Intermediäre zu vermehren; ein Fehlen der gebotenen Überparteilichkeit im Angebot von Sparmethoden, die von gewissen Banken angewandt werden, obwohl die Produkte anderer den Bedürfnissen des Kunden besser entsprechen würden; das Fehlen der gebotenen Sorgfalt oder gar eine vorsätzliche Fahrlässigkeit seitens der Kundenberater bei der Wahrung der Interessen, die den Wertpapierstand ihrer Kunden betreffen; die Gewähr einer Finanzierung durch eine Bank unter der Voraussetzung, dass beim selben Intermediär gleichzeitig andere Finanzprodukte erworben werden, die für den Kunden vielleicht nicht lohnend sind.

23. Jedes Unternehmen bildet ein wichtiges Netzwerk von Beziehungen und stellt auf seine Weise einen mittleren sozialen Körper dar, der eine eigene Kultur und eine eigene Praxis hat. Diese Kultur und diese Praxis bestimmen nicht nur die innere Organisation des Unternehmens, sondern wirken sich auch auf das gesellschaftliche Gefüge aus, in dem das Unternehmen tätig ist. Gerade hier erinnert die Kirche an die soziale Verantwortung der Unternehmen[44], die sowohl nach außen als auch nach innen zum Ausdruck kommt.

Dort, wo der reine Profit in der Unternehmenskultur einer Finanzgesellschaft an oberster Stelle steht und das Erfordernis des Gemeinwohls missachtet wird – das kommt heute auch an renommierten Business Schools häufig vor –, wird jedes ethische Anliegen unweigerlich als etwas Äußerliches empfunden, das der unternehmerischen Tätigkeit fremd ist. Das wird dadurch umso deutlicher, dass jene, die sich diesem Firmenziel nicht anpassen, von einer derartigen Unternehmenslogik in Bezug auf Gehalt und berufliche Anerkennung bestraft werden. In diesen Fällen führt der allein gewinnorientierte Zweck leicht zu einer perversen und selektiven Logik, die oft jene an die Firmenspitzen bringt, die zwar fähig, aber auch machthungrig und skrupellos sind und deren Umgang mit anderen vor allem die eigenen Interessen im Blick hat.

Eine derartige Logik hat Wirtschaftslenker oft eine Unternehmenspolitik betreiben lassen, die nicht eine Verbesserung der wirtschaftlichen Gesundheit ihrer Firmen anstrebt, sondern einzig den Profit der Aktionäre (Shareholders). Das schadet nicht nur den berechtigten Interessen jener, deren Arbeit und Dienste der Firma Nutzen bringen, sondern auch den Konsumenten und den verschiedenen lokalen Gemeinschaften (Stakeholders). Oft von der Aussicht auf sehr hohe Entlohnung bei Erzielung sofortiger Ergebnisse angespornt, der bei Nichterreichen der Ziele keine entsprechend hohen Strafen entgegen stehen, werden den Managern und Aktionären schnell beträchtliche Gewinne versprochen. Dies verleitet zum Eingehen unangemessen hoher Risiken. Das Ergebnis ist, dass die Firmen jener wirtschaftlicher Energien beraubt werden, die ihnen eine Zukunftsperspektive hätten geben können.

All das fördert die Entstehung und Verbreitung einer Kultur, die zutiefst amoralisch ist. In dieser Kultur schreckt man oft nicht davor zurück, Verbrechen zu begehen, solange der erhoffte Vorteil größer ist als die zu erwartende Strafe. Eine solche Kultur schadet ernsthaft der Gesundheit jedes marktwirtschaftlichen Systems, weil sie sein Funktionieren und die wirksame Umsetzung des Gemeinwohls gefährdet, das die notwendige Grundlage jeder Form des Miteinander ist.

Dringlich geboten erscheinen deshalb eine ehrliche Selbstkritik und eine Trendwende in Richtung einer Unternehmens- und Finanzkultur, die all jene Faktoren berücksichtigt, die das Gemeinwohl ausmachen. Das bedeutet beispielsweise, dass man die Person und die Qualität der Beziehungen zwischen den Personen in den Mittelpunkt der Unternehmenskultur stellt. Wo das geschieht, können die Unternehmen eine Art sozialer Verantwortung praktizieren, die nicht bloß etwas Zufälliges oder Nebensächliches ist, sondern von innen her jede ihrer Handlungen beeinflusst und diesen eine soziale Ausrichtung gibt.

Genau hier kann der natürliche Kreislauf von Profit – notwendiger Bestandteil, ohne den kein Wirtschaftssystem auskommen kann – und sozialer Verantwortung – wesentliche Voraussetzung für das Überleben jeder Form von zivilem Zusammenleben – seine ganze Fruchtbarkeit und das unauflösbare Band zutage treten lassen, das zwischen einer den Menschen und das Gemeinwohl respektierenden Ethik und dem tatsächlichen Funktionieren jedes Wirtschafts- und Finanzsystems besteht – ein Band, das die Sünde zu verdunkeln droht. Begünstigt wird dieser positive Kreislauf etwa durch das Streben nach einer Verminderung des Risikos von Konflikten mit den Stakeholders wie auch durch eine möglichst starke Förderung der Motivation der Angestellten eines Unternehmens.

Hier muss überzeugend dargelegt werden, dass die Schaffung von Mehrwert, die das Hauptziel des Finanzwirtschaftssystems ist, in einem auf eine ehrliche Suche nach dem Gemeinwohl gegründeten und deshalb soliden ethischen System wirklich praktikabel ist. Nur der Anerkennung und Umsetzung des inneren Bandes zwischen wirtschaftlicher und ethischer Vernunft kann nämlich ein Wohl erwachsen, das allen Menschen zugutekommt[45]. Denn auch der Markt braucht für sein gutes Funktionieren anthropologische und ethische Grundlagen, die er sich nicht selber geben und die er nicht hervorbringen kann.

24. Wenn die Kreditwürdigkeit ein besonnenes Auswahlverfahren erfordert, um Kreditnehmer ausfindig zu machen, die wirklich würdig, innovationsfähig und gegen ungesunde Kollusionen gefeit sind, müssen die Banken in Anbetracht der eingegangenen Risiken über das nötige Kapital verfügen, damit eine eventuelle soziale Aufteilung der Verluste so begrenzt wie möglich gehalten werden kann und vor allem auf jene zurückfällt, die dafür verantwortlich sind.

Gewiss erfordert die angemessene Verwaltung der Ersparnisse nicht nur eine gebotene rechtliche Regelung, sondern auch entsprechende kulturelle Denkmuster sowie eine ständige aufmerksame, auch der Ethik verpflichtete Überprüfung der Beziehung zwischen Bank und Kunde und eine kontinuierliche Überwachung der Rechtmäßigkeit aller Geschäfte, die diese Beziehung betreffen.

Ein interessanter und zu erprobender Vorschlag in diese Richtung wäre die Schaffung bankinterner Ethikkommissionen, die den Verwaltungsräten zur Seite gestellt werden könnten. Auf diese Weise würde den Banken geholfen, nicht nur ihre Bilanzen gegen Verluste abzusichern und die tatsächliche Übereinstimmung zwischen ihrem statuarischen Auftrag und ihrer Finanzpraxis zu wahren, sondern auch in angemessener Weise die Realwirtschaft zu stützen.

25. Die Schaffung sehr riskanter Wertpapiere – die faktisch eine Art fiktiver Schaffung von Wert ohne angemessene Qualitätskontrolle und korrekte Kreditbewertung darstellt – kann zwar die Intermediäre bereichern, schafft aber auch leicht Insolvenz zum Schaden jener, die Rechte aus dem Wertpapier später eintreiben müssen. Dies gilt umso mehr, wenn die Last des Risikos, das diese Wertpapiere bergen, vom Ausstellerinstitut auf den Markt abgeladen wird, in dem sie eingeführt und verbreitet werden (vgl. etwa die Verbriefung von Hypothekarkrediten), was eine weitreichende Vergiftung und potenzielle Systemstörungen zur Folge hat. Eine solche Vergiftung der Märkte widerspricht dem Gebot der Gesundheit des finanzwirtschaftlichen Systems und ist unter dem Gesichtspunkt einer dem Gemeinwohl verpflichteten Ethik nicht akzeptabel.

Jedem Wertpapier muss ein tendenziell realer und nicht bloß vermeintlicher, schwer feststellbarer Wert entsprechen. In diesem Sinn wird eine öffentliche überparteiliche Regelung und Einschätzung der Vorgehensweise der Rating-Agenturen immer dringlicher. Dazu bedarf es rechtlicher Instrumente, die es nicht nur ermöglichen, Missbräuche zu sanktionieren, sondern die auch verhindern, dass gefährliche Angebotsoligopole entstehen. Das gilt vor allem dort, wo wir es mit Produkten des Kreditvermittlungssystems zu tun haben, bei dem der ursprüngliche Kreditgeber die Verantwortung für den gewährten Kredit auf jene ablädt, die ihm nachfolgen.

26. Einige Finanzprodukte, darunter die sogenannten „Derivate“, wurden als Absicherung gegen Risiken von bestimmten Geschäften geschaffen, die oft auch auf den vermeintlichen Wert setzen, der diesen Risiken beigemessen wird. Diesen Finanzinstrumenten liegen Verträge zugrunde, bei denen die Parteien noch in der Lage sind, das Risiko abzuschätzen, gegen das man sich absichern will.

Bei manchen Formen von Derivaten (besonders bei den sogenannten Verbriefungen) konnte man jedoch beobachten, wie die ursprünglich mit bestimmbaren Finanzinvestitionen verbundenen Strukturen immer komplexer wurden (Verbriefungen von Verbriefungen), so dass es sehr schwierig – und nach verschiedenen derartigen Transaktionen fast unmöglich – ist, den Basiswert auf vernünftige und gerechte Weise festzulegen. Das bedeutet, dass jede Phase beim An- und Verkauf dieser Wertpapiere unabhängig vom Wollen der einzelnen Parteien eine Verfälschung des tatsächlichen Wertes des Risikos bewirkt, gegen welches das Instrument eigentlich schützen müsste. All das hat das Entstehen von Spekulationsblasen gefördert, die zur jüngsten Finanzkrise wesentlich beigetragen haben.

Es ist offensichtlich, dass die Unberechenbarkeit dieser Produkte – die zunehmend schwindende Transparenz der versicherten Gegenstände –, die im ursprünglichen Geschäft noch nicht zutage tritt, diese Instrumente unter dem Aspekt einer die Wahrheit und das Gemeinwohl achtenden Ethik immer unannehmbarer macht. Ihre wirtschaftliche Unzuverlässigkeit lässt sie zu einer Art Zeitbombe werden, die früher oder später explodieren und die Gesundheit der Märkte vergiften kann. Hier ist ein Mangel an Ethik festzustellen, der dann besonders schwerwiegend wird, wenn diese Produkte auf den sogenannten nicht geregelten Märkten (Over The Counter) gehandelt werden. Mehr als auf den geregelten Märkten sind sie dort Wagnissen, wenn nicht sogar dem Betrug ausgesetzt. Auf diese Weise werden der Realwirtschaft Lebenssaft und Investitionen entzogen.

Eine ähnliche ethische Bewertung kann auch bezüglich des Gebrauchs der Credit Default Swaps (CDS: spezielle Versicherungsverträge des Ausfallrisikos) vorgebracht werden. Diese ermöglichen es, auf das Ausfallrisiko Dritter zu setzen, auch wenn man vorher kein Kreditrisiko eingegangen ist, und diese Geschäfte in gleicher Weise zu wiederholen. Dies ist gemäß den gewöhnlichen Versicherungsverträgen absolut unzulässig.

Am Vorabend der Finanzkrise von 2007 war der CDS-Markt so rasant gewachsen, dass sein Wert fast dem gesamten Welt-Bruttoinlandsprodukt (BIP) entsprach. Die so gut wie uneingeschränkte Verbreitung dieser Art von Verträgen hat ein Finanzsystem gedeihen lassen, das auf den Kreditausfall anderer setzt, also unter ethischem Gesichtspunkt inakzeptabel ist.

Der Erwerb solcher Finanzinstrumente durch jene, die überhaupt kein Kreditrisiko eingegangen sind, stellt einen Sonderfall dar, bei dem die Akteure an der Insolvenz anderer Wirtschaftsunternehmen interessiert sind, ja sogar darauf hinzuarbeiten versucht sein können.

Es liegt auf der Hand, dass diese Möglichkeit moralisch besonders verwerflich ist, weil es sich dabei um eine Art „Wirtschaftskannibalismus“ handelt. Zudem wird auf diese Weise auch das Grundvertrauen untergraben, das notwendig ist, um den Wirtschaftskreislauf nicht zum Erliegen zu bringen. In diesem Fall können wir wiederum sehen, wie ein unter ethischem Gesichtspunkt negatives Verhalten auch für das gesunde Funktionieren des Wirtschaftssystems schädlich ist.

Es ist darum festzuhalten: Wenn solche Finanzgeschäfte Folgen haben können, die ganzen Ländern und Millionen von Familien großen Schaden zufügen, handelt es sich um extrem unmoralische Handlungsweisen. Es scheint deshalb angebracht, das in einigen Ländern bereits bestehende Verbot derartiger Geschäfte auszuweiten und etwaiges Zuwiderhandeln mit größter Schärfe zu bestrafen.

27. Ausschlaggebend für die Dynamik der Finanzmärkte sind die Kursfeststellung (Fixing) der Zinssätze bei Interbankdarlehen (London Interbank Offered Rate, LIBOR), deren Bestimmung auf dem Kapitalmarkt als Leitzinssatz dient, sowie die offiziellen Wechselkurse der verschiedenen Leitwährungen.

Diese wichtigen Parameter haben entscheidende Auswirkungen auf das gesamte Finanzwirtschaftssystem, da sie die tägliche Bewegung gewaltiger Geldsummen durch Parteien beeinflussen, die auf der Grundlage der Höhe ebendieser Zinssätze Verträge unterzeichnen. Die Manipulation dieser Zinssätze ist also ein grober ethischer Verstoß mit weitreichenden Konsequenzen.

Dass genau das über Jahre hinweg ungestraft passieren konnte, macht deutlich, wie zerbrechlich und betrugsanfällig ein Finanzsystem ist, das nicht ausreichend durch Regeln kontrolliert wird und in dem etwaige Regelverstöße seiner Akteure keine entsprechenden Sanktionen nach sich ziehen. Wenn echte Kartelle gegenseitiger Begünstigung unter jenen Akteuren entstehen, die mit dem korrekten Fixing dieser Zinssätze betraut waren, handelt es sich um kriminelle Vereinigungen, die nicht nur dem Gemeinwohl schaden, sondern auch der Gesundheit des Wirtschaftssystem eine gefährliche Wunde zufügen. Darum braucht es angemessene Strafen, die eine abschreckende Wirkung haben.

28. Die Hauptakteure der Finanzwelt, vor allem die Banken, müssen heute über interne Organismen verfügen, die eine Compliance-Funktion ausüben, also eine Selbstkontrolle bezüglich der Rechtmäßigkeit der wesentlichen Phasen des Entscheidungsprozesses und der hauptsächlichen vom Unternehmen angebotenen Produkte. Es ist jedoch anzumerken, dass sich die Praxis des Finanzwirtschaftssystems, wenigstens bis vor kurzem, oft hauptsächlich auf ein „negatives“ Urteil der Compliance-Funktion stützte, die eine rein formale Einhaltung der von den geltenden Gesetzen auferlegten Beschränkungen im Blick hatte. Daraus folgte leider auch, dass die Praxis, den normativen Kontrollen nach Möglichkeit auszuweichen, weit verbreitet war, auch wenn darauf geachtet wurde, den normativen Regeln nicht ausdrücklich zu widersprechen, um nicht Sanktionen auf sich zu ziehen.

Um all das zu vermeiden, ist es notwendig, dass die Compliance-Funktion auch „positiv“ gesehen wird. Dabei geht es darum zu prüfen, ob die verschiedenen Geschäfte den Prinzipien entsprechen, die den geltenden Bestimmungen zugrunde liegen. Das könnte nach Ansicht vieler Experten durch die Errichtung von Ethik-Kommissionen erleichtert werden, welche mit den Verwaltungsräten zusammenarbeiten und einen natürlichen Ansprechpartner für jene darstellen, die im konkreten Handeln der Bank die Übereinstimmung der Vorgangsweisen mit den geltenden Normen gewährleisten müssen.

In diesem Sinn müssten innerhalb der Firmen Richtlinien vorgesehen werden, welche die Übereinstimmung mit den Normen erleichtern, die unterscheiden helfen, welche der rechtlich möglichen Geschäfte auch ethisch annehmbar und praktizierbar sind (eine Frage, die etwa im Bereich der Steuerumgehung besonders akut ist). Damit könnte erreicht werden, dass man von einer formalen zu einer substantiellen Einhaltung der Normen gelangt.

Darüber hinaus wäre es wünschenswert, dass auch das Regelsystem der Finanzwelt eine allgemeine Klausel vorsieht, die Geschäfte für unrechtmäßig erklärt, die hauptsächlich darauf abzielen, die geltenden Normen zu umgehen. Folglich sollten alle Akteure, die für solche Vergehen verantwortlich sind, mit ihrem Vermögen dafür haften.

29. Phänomene wie die weltweite Verbreitung von Finanzinstituten ohne Bankenregulierung (Shadow Banking System) können nicht weiter unbeachtet bleiben. Selbst wenn in diesen Systemen auch Arten von Intermediären vorgesehen sind, deren Wirken nicht unmittelbar problematisch erscheint, haben sie doch faktisch bewirkt, dass verschiedene nationale Aufsichtsbehörden die Kontrolle über das System verloren haben. Das hat wiederum in unbedachter Weise den Rückgriff auf sogenannte kreative Finanzprodukte begünstigt, bei denen der Hauptgrund der Investition von Finanzressourcen hauptsächlich spekulativer, um nicht zu sagen ausbeuterischer Natur ist, was kein Dienst an der Realwirtschaft ist. Viele Fachleute stimmen beispielsweise darin überein, dass solche Schattenbanken zu den Hauptauslösern zählen, die das Entstehen und die globale Ausbreitung der jüngsten Finanzkrise begünstigt haben, welche in den USA im Sommer 2007 mit der Krise der Hypothekarkredite begonnen hat.

30. Von solchen Spekulationsabsichten nährt sich auch die Welt der Offshore-Geschäfte, die zwar auch andere rechtmäßige Dienste anbietet, aber aufgrund weit verbreiteter Kanäle der Steuerumgehung – wenn nicht sogar der Steuerhinterziehung und der Geldwäsche – zur weiteren Verarmung des normalen Produktions- und Vertriebssystems der Güter und Dienstleistungen beiträgt. Ob viele dieser Situationen direkt unmoralisch sind oder in unmittelbarer Nähe zur Unmoral stehen, ist schwer zu bestimmen: Sicher ist aber, dass solche Systeme, wo sie in ungerechter Weise der Realwirtschaft Lebenssaft entziehen, nur schwer gerechtfertigt werden können, und zwar sowohl in ethischer Hinsicht als auch im Blick auf die globale Effizienz des Wirtschaftssystems.

Inzwischen wird immer deutlicher und kann auch nicht mehr geleugnet werden, dass zwischen unethischem Verhalten von Unternehmern und negativen Ergebnissen des ganzen Systems ein Zusammenhang besteht: Es ist mittlerweile klar, dass Mangel an Ethik die Unvollkommenheiten der Mechanismen des Marktes verschärft[46].

In der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts entstand der Offshore-Markt der Eurodollars, ein Ort des Finanzaustausches außerhalb jedes offiziellen normativen Rahmens. Dieser Markt breitete sich von einem wichtigen europäischen Land in andere Länder der Erde aus und ließ so ein regelrechtes Finanznetzwerk entstehen, das eine Alternative zum offiziellen Finanzsystem bildete und Aufsichten unterstand, die es schützten.

Diesbezüglich ist zu sagen, dass als formaler Grund für die Berechtigung von Offshore-Domizilen angeführt wird, institutionellen Investoren die Möglichkeit zu geben, keiner Doppelbesteuerung ausgesetzt zu sein – zuerst in dem Land, in dem sie ihren Wohnsitz haben, und dann dort, wo sich das Kapital befindet. In Wirklichkeit bieten sich diese Orte heute jedoch in beträchtlichem Maß für Finanzgeschäfte an, die als grenzwertig, wenn nicht sogar als völlig inakzeptabel zu betrachten sind. Das gilt in Bezug auf ihre Berechtigung unter normativem wie auch unter ethischem Gesichtspunkt, also im Blick auf eine gesunde Wirtschaftskultur, der es fremd ist, Absichten zu verfolgen, die der Steuerumgehung zuträglich sind.

Heute wird mehr als die Hälfte des Welthandels von einflussreichen Akteuren getätigt, die ihre Steuerlast abbauen, indem sie die Erträge von einem Ort zum anderen verlagern, so wie es für sie am günstigsten ist. Das hat zur Folge, dass die Gewinne in die Steuerparadiese verlegt werden, die Kosten hingegen in die Länder mit höheren Steuerauflagen. All das hat der Realwirtschaft beträchtliche Ressourcen entzogen und zur Entstehung von Wirtschaftssystemen beigetragen, die auf dem Prinzip der Ungleichheit aufbauen. Es darf auch nicht verschwiegen werden, dass diese Offshore-Domizile nicht selten zu Orten geworden sind, an denen fast schon gewohnheitsmäßig „schmutziges“ Geld gewaschen wird, das aus illegalen Geschäften kommt (Diebstahl, Betrug, Korruption, kriminellen Vereinigungen, Mafia, Kriegsbeuten, usw.).

Indem einige Staaten die auf ihren offiziellen Finanzplätzen getätigten Offshore-Geschäfte vertuschten, haben sie zugelassen, dass aus Verbrechen Kapital geschlagen werden konnte. Sie fühlten sich nicht dafür verantwortlich, weil dies formal ja nicht unter ihrer Aufsicht geschehen ist. In moralischer Hinsicht handelt es sich dabei um eine offenkundige Form von Heuchelei.

Dieser Markt ist in kurzer Zeit zum größten Umschlagplatz von Kapitel geworden. Denn er bietet einen leichten Weg für verschiedene schwerwiegende Formen von Steuerumgehung an. Deshalb ist es verständlich, dass viele, auch namhafte Unternehmen, die auf dem Markt agieren, Offshore-Domizile anstreben und dort bereits tätig sind.

31. Das von den Staaten entwickelte Steuersystem erscheint gewiss nicht immer gerecht. Dabei ist zu beachten, dass diese Ungerechtigkeit oft zu Lasten der wirtschaftlich Schwächeren geht und zum Vorteil jener gereicht, die ohnehin schon bevorteilt und sogar in der Lage sind, auf die Regelsysteme, welche die Steuern festlegen, Einfluss zu nehmen. In Wirklichkeit hat ein gerechtes Steuersystem aber eine ausgleichende Funktion in der Umverteilung des Reichtums. Das hilft nicht nur jenen, die auf angemessene Subventionen angewiesen sind, sondern trägt auch dazu bei, die Investitionen und das Wachstum der Realwirtschaft zu fördern.

Die Steuerumgehung durch die Hauptakteure der Märkte, vor allem der einflussreichen Finanzintermediäre, führt jedenfalls dazu, dass der Realwirtschaft in ungerechter Weise Ressourcen entzogen werden, was der ganzen Zivilgesellschaft zum Schaden gereicht. In Anbetracht der fehlenden Transparenz dieser Systeme lässt sich schwer sagen, wie viel Kapital hier genau angehäuft und bewegt wird. Es wurde aber berechnet, dass schon eine geringe Besteuerung dieser Offshore-Transaktionen ausreichen würde, um einen Gutteil des Problems des Hungers in der Welt zu lösen. Warum sollten wir uns nicht mit Mut auf den Weg machen, eine solche Initiative zu ergreifen?

Es ist auch sicher, dass die Existenz der Offshore-Domizile den Abzug von Kapital aus Ländern mit niedrigem Lohn ungemein begünstigt hat, wodurch es zu vielen politischen und wirtschaftlichen Krisen kam und diese Länder daran gehindert wurden, den Weg des Wachstums und einer gesunden Entwicklung einzuschlagen.

An dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, dass dieser Missstand bereits mehrfach von verschiedenen internationalen Institutionen angeprangert wurde und nicht wenige nationale Regierungen mit Recht versucht haben, den Einfluss der Offshore-Finanzdomizile zu begrenzen. Es sind diesbezüglich auch viele positive Schritte gemacht worden, vor allem in den letzten zehn Jahren. Bisher ist es jedoch nicht gelungen, geeignete wirksame Abkommen und Regelungen durchzusetzen. Wegen der beträchtlichen Kapitalsummen, über die diese Domizile verfügen, und des entsprechend großen Einflusses, den sie auf viele politische Verantwortungsträger ausüben, ist es ihnen oft gelungen, die auch von bedeutenden internationalen Organisationen vorgeschlagenen Regelungen nicht anzuwenden oder unwirksam zu machen.

All das fügt dem guten Funktionieren der Realwirtschaft Schaden zu und bildet eine Struktur, die, so wie sie sich heute darstellt, in ethischer Hinsicht vollkommen inakzeptabel ist. Deswegen ist es notwendig und dringend, dass auf internationaler Ebene geeignete Mittel gefunden werden, um diesen ungerechten Systemen Abhilfe zu schaffen. Es bedarf vor allem einer Transparenz der Finanzen auf allen Ebenen (zum Beispiel für multinationale Unternehmen der Pflicht zur öffentlichen Rechnungslegung über ihre Tätigkeiten und der Steuern, die sie an die einzelnen Länder gezahlt haben, in denen sie durch ihre Tochterfirmen agieren). Es braucht auch einschneidende Sanktionen, die jenen Ländern anzudrohen sind, die von den oben beschriebenen unehrlichen Praktiken (Steuerumgehung und Steuerhinterziehung, Geldwäsche) nicht ablassen.

32. Das Offshore-System hat vor allem in wirtschaftlich weniger entwickelten Ländern die Staatsverschuldung vergrößert. So wurde festgestellt, dass der private Reichtum, den einige Auserlesene in den Steuerparadiesen angehäuft haben, fast die Höhe der Staatsschuld der jeweiligen Länder erreicht hat. Das zeigt auch, dass diese Verschuldung in der Tat oft von finanziellen Verlusten herrührt, die private Akteure geschaffen und dann auf den Staat abgeladen haben. Im Übrigen ist ja bekannt, dass namhafte Wirtschaftsakteure, oft unter Mitwissen der Politiker, fast schon gewohnheitsmäßig eine soziale Verteilung der Verluste praktizieren.

Dennoch muss festgehalten werden, dass die Staatsverschuldung oft auch von einer ungeschickten, wenn nicht sogar betrügerischen Handhabung des öffentlichen Verwaltungssystems herrührt. Diese Verschuldung, also die Gesamtheit der auf den Staaten lastenden finanziellen Verluste, ist heute eine der größten Hindernisse für das gute Funktionieren und das Wachstum der verschiedenen Volkswirtschaften. Zahlreiche Volkswirtschaften tragen nämlich die Last, Zinsen zahlen zu müssen, die von dieser Verschuldung herrühren, und sehen sich daher gezwungen, diesbezüglich angemessene strukturelle Anpassungen vorzunehmen.

In Anbetracht all dieser Entwicklungen sind die einzelnen Staaten gerufen, mit geeigneten Eingriffen in das öffentliche System durch ausgewogene Strukturreformen, besonnene Aufteilung der Kosten und kluge Investitionen Abhilfe zu schaffen. Auf internationaler Ebene muss man die einzelnen Länder zwar auf ihre unausweichliche Verantwortung hinweisen, aber auch vernünftige Auswege aus der Schuldenspirale ermöglichen und begünstigen. Den Staaten – und damit ihren Bürgern, das heißt Millionen von Familien – dürfen jedenfalls keine Lasten auferlegt werden, die sie niemals tragen können.

Wichtig sind dabei auch politische Vereinbarungen über eine vernünftige Senkung der Schulden, besonders wenn diese Schulden an Länder gezahlt werden müssen, die es sich leisten können, von ihren Forderungen abzusehen[47]. Solche Lösungen braucht es sowohl für die Gesundheit des internationalen Wirtschaftssystems zur Vermeidung der Ansteckung durch mögliche Systemkrisen als auch für das Streben nach dem Gemeinwohl aller Völker.

33. Das, worüber wir bisher gesprochen haben, ist nicht nur das Werk von Institutionen, die außerhalb unserer Kontrolle agieren. Es fällt auch in den Bereich unserer Verantwortung. Uns stehen nämlich bedeutende Mittel zur Verfügung, mit denen wir zur Lösung vieler Probleme beitragen können. Das Leben der Märkte hängt zum Beispiel von Angebot und Nachfrage der Güter ab: Jeder von uns kann entscheidend darauf Einfluss nehmen, indem wir dieser Nachfrage Gestalt geben.

Von großer Wichtigkeit ist daher eine kritische und verantwortungsvolle Steuerung des Konsum- und Sparverhaltens. Der Einkauf, mit dem wir uns täglich das Lebensnotwendige besorgen, ist immer auch verbunden mit einer Wahl, die wir zwischen verschiedenen Produkten treffen, die der Markt zu bieten hat. Mit dieser Wahl entscheiden wir uns oft unbewusst für Güter, die Produktionsketten durchlaufen, in denen die Verletzung der grundlegenden Menschenrechte normal ist oder die von Unternehmen produziert werden, deren Ethik faktisch keine anderen Interessen beinhaltet als den Profit ihrer Akteure, und zwar um jeden Preis.

Unsere Wahl muss auf die Güter fallen, die auf ethisch würdige Weise hergestellt wurden. Schon durch die scheinbar banale Geste unseres Konsumverhaltens bringen wir nämlich eine ethische Haltung zum Ausdruck. Wir sind gerufen, Stellung zu beziehen gegenüber den Dingen, die dem Menschen gut tun oder ihm schaden. In diesem Zusammenhang wurde von der „Wahl mit dem Geldbeutel“ gesprochen: Es geht in der Tat darum, jeden Tag auf den Märkten jene Dinge auszuwählen, die dem echten Wohlergehen von uns allen dienen, und jene abzulehnen, die ihm schaden[48].

Ähnliche Erwägungen müssen auch dort angestellt werden, wo es um den Umgang mit unseren Ersparnissen geht. Wir können sie beispielsweise auf Unternehmen ausrichten, die nach klaren Kriterien vorgehen, von einer Ethik der Achtung des ganzen Menschen und aller Menschen inspiriert sind und sich ihrer sozialen Verantwortung bewusst sind[49]. Noch allgemeiner ist jeder von uns gerufen, Reichtum mit Praktiken zu produzieren, die unserem relationalen Wesen entsprechen und die ganzheitliche Entwicklung der Person im Blick haben.

IV. Schlussbemerkung

34. In Anbetracht der heute fast schon erdrückenden Macht und Allgegenwart der finanzwirtschaftlichen Systeme könnten wir versucht sein, dem Zynismus zu verfallen und zu meinen, dass wir mit unseren schwachen Kräften wenig ausrichten können. In Wirklichkeit kann aber jeder von uns viel tun, vor allem, wenn wir nicht allein bleiben.

Zahlreiche Vereinigungen aus der Zivilgesellschaft sind wie eine Art Reserve des Gewissens und der sozialen Verantwortung, ohne die wir nicht auskommen können. Wir alle sind heute mehr denn je gerufen, uns zu Wächtern des guten Lebens und zu Verfechtern eines neuen sozialen Engagements zu machen. Dafür muss unser Handeln auf das Streben nach dem Gemeinwohl ausgerichtet und auf den festen Prinzipien der Solidarität und der Subsidiarität aufgebaut sein.

Jede noch so klein und unbedeutend erscheinende Geste unserer Freiheit, die das authentische Wohl im Blick hat, stützt sich auf den guten Herrn der Geschichte. Sie wird Teil einer positiven Entwicklung, die unsere schwachen Kräfte übersteigt und alle Handlungen des guten Willens unauflöslich in einem einzigen Netzwerk verbindet, das Himmel und Erde eint. Das dient wirklich der Humanisierung des Menschen und der Welt. Genau das brauchen wir, um gut zu leben und eine Hoffnung zu nähren, die unserer hohen Würde als menschliche Personen entspricht.

Die Kirche, die Mutter und Lehrmeisterin ist und darum weiß, dass ihr ein unverdientes Gut geschenkt wurde, bietet den Männern und Frauen aller Zeiten die Ressourcen für eine zuverlässige Hoffnung an. Maria, die Mutter des für uns Mensch gewordenen Gottes, nehme unsere Herzen in ihre Hand und leite sie beim weisen Aufbau jenes Wohls, das ihr Sohn Jesus durch seine vom Heiligen Geist erneuerte Menschlichkeit zum Heil der Welt eröffnet hat.

Papst Franziskus hat in einer dem unterzeichneten Sekretär der Kongregation für die Glaubenslehre gewährten Audienz die vorliegenden Erwägungen, die in der Ordentlichen Versammlung der Kongregation beschlossen worden sind, approbiert und ihre Veröffentlichung angeordnet.

Gegeben in Rom, am 6. Januar 2018, Hochfest der Erscheinung des Herrn.

+ Luis F. Ladaria, S.I.
Titularerzbischof von Thibica
Präfekt der Kongregation
für die Glaubenslehre

Peter Kard. Turkson
Präfekt des Dikasteriums
für den Dienst zugunsten der ganzheitlichen
Entwicklung des Menschen

+ Giacomo Morandi
Titularerzbischof von Cerveteri
Sekretär der Kongregation
für die Glaubenslehre

Bruno Marie Duffé
Sekretär des Dikasteriums
für den Dienst zugunsten der ganzheitlichen
Entwicklung des Menschen

***********

(vh – mm)

D: Geht die DBK auf Konfrontationskurs mit Rom?

Der Ständige Rat der Deutschen Bischofskonferenz tagte heute in Würzburg.

Vaticanhistory – Martin Marker.

Die Deutsche Bischofskonferenz (DBK) veröffentlichte heute einige wenige Details zur Aussprache der stattgefundenen Sitzung auf ihrer Website. Die Bischöfe befassten sich mit der seit einigen Tagen öffentlich geführten Debatte um die pastorale Handreichung über konfessionsverschiedene Ehen und eine gemeinsame Teilnahme an der Eucharistie im Einzelfall.

Die Bischöfe hatten den Text der Handreichung in ihrer Frühjahrsversammlung mit einer Zweidrittelmehrheit beschlossen. Bis zur heutigen Sitzung konnten die Mitglieder Änderungsvorschläge („Modi“) einreichen. Auf der Website der DBK heißt es hierzu am 23. April:

„Diese (Modi, d. Red.) wurden in das Dokument eingearbeitet. Dessen finale Fassung wurde gemäß Beschlussfassung der Vollversammlung von den Vorsitzenden der Glaubenskommission und der Ökumenekommission sowie dem Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz festgestellt. Kardinal Reinhard Marx wird die Mitglieder der Deutschen Bischofskonferenz und die zuständigen Einrichtungen in der Römischen Kurie informieren.

Der Ständige Rat begrüßt die Möglichkeit zu einem vertiefenden und klärenden Gespräch in Rom. An diesem werden nach jetzigem Stand auf Einladung der Kongregation für die Glaubenslehre neben dem Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Reinhard Marx, auch der Erzbischof von Köln, Kardinal Rainer Maria Woelki und der Bischof von Münster, Bischof Dr. Felix Genn, teilnehmen. Ziel des Gesprächs aus Sicht des Ständigen Rates ist es, die pastoralen Aspekte und den rechtlichen Kontext auch aus weltkirchlicher Sicht zu erörtern und abzuwägen.“

Nachdem die Handreichung von sieben Bischöfen der Vollversammlung, unter Leitung von Kardinal Woelki, an die zuständigen Einrichtungen in der Römischen Kurie weitergeleitet wurden, gab es mit Sicherheit eine Menge Gesprächsbedarf.

Unverständlich ist allerdings, warum der Ständige Rat am heutigen Tag eine finale Fassung der Handreichung beschlossen hat. Nach der öffentlichen Kritik und dem Ansinnen des Päpstlichen Einheitsrates, es bestehe „Erklärungsbedarf“ vonseiten des Leiters der DBK, ist der Beschluss einer finalen Fassung noch kritischer zu bewerten. Dieser Umstand lässt durchaus darauf schließen, dass man sich auf einen Konfrontationskurs mit Rom einlassen will, anstatt die Gespräche in Rom in Ruhe abzuwarten. (vh – mm)

Papst schickt Sonderermittler nach Chile im Fall von Bischof Barros

VATIKANSTADT – Nachdem er jüngst seine Unterstützung für einen chilenischen Bischof bekräftigt hat, der beschuldigt wird, sexuellen Missbrauch vertuscht zu haben, hat Papst Franziskus nun einen Delegierten ernannt, der „neue Informationen“ zum Fall untersuchen soll.

Wie der Vatikan am heutigen Dienstag mitteilte, „hat der Papst Erzbischof Charles J. Scicluna von Malta gebeten, nach Bekanntwerden einiger Informationen über den Fall von Juan de la Cruz Barros Madrid, nach Santiago zu reisen“. Dort soll Erzbischof Scicluna sich mit Personen treffen, die „Dinge übermitteln“ wollen, so der Heilige Stuhl.

Zusätzlich zu seiner Hirtenrolle in Malta wurde Erzbischof Scicluna im Jahr 2015 vom Papst mit der Aufsicht über die Bearbeitung der Beschwerden von Geistlichen betraut, die vor der Kongregation für die Glaubenslehre des Missbrauchs angeklagt sind. Scicluna ist weithin bekannt für seine kirchenrechtliche Expertise im Umgang mit Vorwürfen sexuellen Missbrauchs.

Die Entscheidung des Papstes, Erzbischof Scicluna nach Santiago zu schicken folgt der andauernden Kontroverse über Bischof Barros, die im Zuge des Verhaltens und der Äußerungen von Papst Franziskus im Rahmen seiner Chile-Reise vom 15.-18. Januar weiter eskaliert ist.

Vier Opfer sexuellen Missbrauchs des überführten Kinderschänders Fernando Karadima beschuldigen Barros, von den Verbrechen seines langjährigen Freundes und Mentors gewusst zu haben. Ihre Aussagen sind öffentlich wiederholt publiziert und bekräftigt worden.

Karadima, der einst eine Laienbewegung leitete, wurde 2011 in einem vatikanischen Prozess wegen sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen verurteilt. Im Alter von 84 Jahren wurde er zu einem Leben in Gebet und Einsamkeit verurteilt.

Barros, der seine Unschuld beteuert, ist seit seiner Ernennung zum Diözesanbischof von Osorno im Jahr 2015 in dieser Rolle umstritten. Papst Franziskus verteidigt Barros seit Jahren.

Während seines Besuches in Chile vom 15. bis 18. Januar traf Papst Franziskus auch mit Missbrauchsopfern zusammen. Als er jedoch am letzten Tag im Land von Journalisten über Barros befragt wurde, sagte er:

„An dem Tag, an dem sie mir Beweise gegen Bischof Barros bringen, werde ich sprechen“, und weiter: „Es gibt keinen einzigen Beweis gegen ihn. Das ist alles Verleumdung. Ist das klar?“

Die Aussagen des Papsts in Chile waren international auf heftigen Widerstand gestoßen. Kritiker warfen Franziskus vor, seine Aussagen seien Opfern gegenüber unsensibel.

Der derzeitige Präsident der Kinderschutzkommission des Vatikans bezeichnete die Worte des Papstes als schmerzhaft und befremdlich für Opfer des sexuellen Missbrauchs durch Geistliche. Kardinal Sean O’Malley, Erzbischof von Boston und einer von neun Mitgliedern des Kardinalrates des Papstes, gab am 20. Januar eine Erklärung ab. Darin heißt es:

„Es ist verständlich, dass die Äußerungen von Papst Franziskus (…) eine Quelle großer Schmerzen für Überlebende sexuellen Missbrauchs durch Geistliche oder andere Täter waren“.

Daraufhin präzisierte der Papst auf dem Rückflug von Lateinamerika seine Aussagen, und entschuldigte sich dafür, Opfer möglicherweise verletzt zu haben, sagte aber weiterhin, es gebe keine Beweise gegen Barros.

Der Bischof selber wiederum hat wiederholt darauf bestanden, dass er nichts von den Misshandlungen wusste

Er bestand darauf, dass der Fall von Barros „studiert wurde, dass er neu studiert wurde und dass es keine Beweise gibt … Das wollte ich sagen. Ich habe keine Beweise, um ihn zu verurteilen. Und wenn ich ihn ohne Beweise oder ohne moralische Gewissheit verurteile, würde ich das Verbrechen eines schlechten Richters begehen. „

„Wenn eine Person kommt und mir Beweise gibt“, sagte er, „bin ich die erste, die ihm zuhört. Wir sollten gerecht sein „. (CNA Deutsch)

Katholische Kirche exkommuniziert schismatische Gruppe

cna_PetrusstatueVATIKANSTADT – Es ist das erste Mal während des Pontifikats von Papst Franziskus, dass eine schismatische Gruppierung offiziell exkommuniziert wird. Es handelt sich um die Chiesa cristiana universale della Nuova Gerusalemme („Universelle christliche Kirche des Neuen Jerusalem“): Sie wurde in Italien von der vermeintlichen Seherin Giuseppina Norcia gegründet, die in Gallinaro wirkt, einem kleinen Ort im Comino-Tal, südöstlich von Rom.

Auch wenn diese Sekte sich nicht in Gemeinschaft mit der katholischen Kirche befand und latae sententiae exkommuniziert war – also automatisch und ohne dass es nötig wäre, dass der Heilige Stuhl sich in irgendeiner Weise dazu äußere – hat die Kongregation für die Glaubenslehre entschlossen, es öffentlich zu verlautbaren.

Die Entscheidung wurde vom Bischof von Sora Cassino Aquino und Pontecorvo, Monsignore Gerardo Antonazzo verkündet, der in allen Kirchen der Diözese in den Sonntagsmessen eine diesbezügliche Mitteilung verbreiten ließ.

Der Vatikan beendet so 42 Jahre von Täuschung und angeblichen Visionen der Giuseppina Norcia, der es gelungen war, Dutzende Menschen zu ködern. „Die doktrinäre Position dieser Gruppe ist eindeutig gegen den katholischen Glauben und ihre Errichtung als neue Organisation, dreist schismatisch, verpflichtet jene, die die Verantwortung haben, das Volk Gottes zu leiten, klar Stellung zu beziehen, um das höhere Gut der Kirche und ihrer Gläubigen zu schützen“ heißt es in der Verlautbarung, die in den Messen verlesen wurde.

Daher ziehen sich „alle, die sich besagter Vereinigung anschließen, aufgrund des Delikts des Schismas die Exkommunikation latae sententiae zu“.

„Der Absolution von der Exkommunikation liegt in der Befugnis des Ortsordinarius. Um sich diese Sanktion zuzuziehen ist es notwendig, dass sich die Gläubigen bewusst oder auf formelle Weise dieser Vereinigung anschließen, im Hinblick auf deren Doktrin und Ideen; es reicht nicht gelegentlich oder von Zeit zu Zeit teilzunehmen“ heißt es weiter.

CNA hat mit einigen Personen aus der Diözese von Sora Kontakt aufgenommen und diese Information bestätigt. „Diesen Sonntag haben wir in den Messen die Mitteilung des Vatikan verlesen, so wie es uns vom Bischof aufgetragen worden war“ erklärt ein Pfarrer.

Die offizielle Verlautbarung der Exkommunikation der Sekte kann auf der Website der Diözese nachgelesen werden. (CNA Deutsch)

Erzbischof Müller zur Seelsorge für wiederverheiratete Geschiedene – Volle Fassung

Erzbischof Gerhard Ludwig Müller, der Präfekt der Kongregation für die Glaubenslehre, hat sich in einem Artikel für die Vatikanzeitung „L´Osservatore Romano" zur Unauflöslichkeit der Ehe geäußert. Der Text, der im Juni dieses Jahres zuerst in der deutschen „Tagespost" erschien, geht speziell auf die Debatte um die zivil Wiederverheirateten und die Sakramente ein. Wir dokumentieren Erzbischof Müllers Text hier in voller Länge.

Die Diskussion über die Problematik der Gläubigen, die nach einer Scheidung eine neue zivile Verbindung eingegangen sind, ist nicht neu. Von der Kirche wurde sie immer mit großem Ernst und in helfender Absicht für die betroffenen Menschen geführt. Denn die Ehe ist ein besonders tief in die persönlichen, sozialen und geschichtlichen Gegebenheiten eines Menschen hinabreichendes Sakrament. Aufgrund der zunehmenden Zahl der Betroffenen in Ländern alter christlicher Tradition handelt es sich um ein pastorales Problem von großer Tragweite. Heute fragen sich durchaus gläubige Menschen ernsthaft: Kann die Kirche die wiederverheirateten geschiedenen Gläubigen nicht unter bestimmten Bedingungen zu den Sakramenten zulassen? Sind ihr in dieser Angelegenheit für immer die Hände gebunden? Haben die Theologen wirklich schon alle diesbezügliche Implikationen und Konsequenzen frei gelegt?

Diese Fragen müssen im Einklang mit der katholischen Lehre über die Ehe erörtert werden. Eine verantwortungsvolle Pastoral setzt eine Theologie voraus, die sich „dem sich offenbarenden Gott mit Verstand und Willen voll unterwirft und seiner Offenbarung willig zustimmt" (II. Vatikanisches Konzil, Konstitution Dei Verbum, Nr. 5). Um die authentische Lehre der Kirche verständlich zu machen, müssen wir vom Wort Gottes ausgehen, das in der Heiligen Schrift enthalten, in der kirchlichen Tradition ausgelegt und vom Lehramt verbindlich interpretiert wird.

Das Zeugnis der Heiligen Schrift

Es ist nicht unproblematisch, unsere Frage unvermittelt in das Alte Testament hineinzutragen, weil damals die Ehe noch nicht als Sakrament betrachtet wurde. Das Wort Gottes im Alten Bund ist aber insofern für uns von Bedeutung, als Jesus in dieser Tradition steht und von ihr her argumentiert. Im Dekalog steht das Gebot „Du sollst nicht die Ehe brechen!" (Ex 20,14), an anderer Stelle wird eine Ehescheidung aber als möglich angesehen. Mose bestimmt nach Dtn 24,1-4, dass ein Mann seiner Frau eine Scheidungsurkunde ausstellen und sie aus seinem Haus entlassen kann, wenn sie nicht mehr sein Wohlgefallen findet. Im Anschluss daran können Mann und Frau eine neue Ehe eingehen. Neben dem Zugeständnis der Scheidung findet sich im Alten Testament aber auch ein gewisses Unbehagen gegenüber dieser Praxis. Wie das Ideal der Monogamie, so ist auch das Ideal der Unauflöslichkeit in dem Vergleich enthalten, den die Propheten zwischen dem Bund Jahwes mit Israel und dem Ehebund anstellen. Der Prophet Maleachi bringt dies deutlich zum Ausdruck: „Handle nicht treulos an der Frau deiner Jugend…, mit der du einen Bund geschlossen hast" (Mal 2,14-15).

Vor allem Kontroversen mit den Pharisäern waren für Jesus Anlass, sich mit dem Thema auseinander zu setzen. Er distanzierte sich ausdrücklich von der alttestamentlichen Scheidungspraxis, die Mose gestattet hatte, weil die Menschen „so hartherzig" waren, und verwies auf den ursprünglichen Willen Gottes: „Am Anfang der Schöpfung… hat Gott sie als Mann und Frau geschaffen. Darum wird der Mann Vater und Mutter verlassen, und die zwei werden ein Fleisch sein. Was aber Gott verbunden hat, das darf der Mensch nicht trennen" (Mk 10,5-9; vgl. Mt 19,4-9; Lk 16,18). Die katholische Kirche hat sich in Lehre und Praxis stets auf diese Worte Jesu über die Unauflöslichkeit der Ehe bezogen. Das Band, das die beiden Ehepartner innerlich miteinander verbindet, ist von Gott selbst gestiftet. Es bezeichnet eine Wirklichkeit, die von Gott kommt und deshalb nicht mehr in der Verfügung der Menschen steht.

Heute meinen einige Exegeten, diese Herrenworte seien schon in apostolischer Zeit mit einer gewissen Flexibilität angewandt worden: und zwar bei porneia/Unzucht (vgl. Mt 5,32; 19,9) und im Fall der Trennung zwischen einem christlichen und einem nicht christlichen Partner (vgl. 1 Kor 7,12-15). Die Unzuchtsklauseln wurden freilich in der Exegese von Anfang an kontrovers diskutiert. Viele sind der Überzeugung, dass es sich dabei nicht um Ausnahmen von der Unauflöslichkeit der Ehe, sondern um ungültige eheliche Verbindungen handle. Jedenfalls kann die Kirche ihre Lehre und Praxis nicht auf umstrittene exegetische Hypothesen aufbauen. Sie muss sich an die klare Lehre Christi halten.

Paulus verkündet das Verbot der Scheidung als ausdrücklichen Willen Christi: „Den Verheirateten gebiete nicht ich, sondern der Herr: Die Frau soll sich vom Mann nicht trennen – wenn sie sich aber trennt, so bleibe sie unverheiratet oder versöhne sich wieder mit dem Mann –, und der Mann darf die Frau nicht verstoßen" (1 Kor 7,10-11). Zugleich lässt er auf Grund eigener Autorität zu, dass sich ein Nichtchrist von seinem christlich gewordenen Partner trennen kann. In diesem Fall ist der Christ „nicht gebunden", unverheiratet zu bleiben (1 Kor 7,12-16). Ausgehend von dieser Stelle erkannte die Kirche, dass nur die Ehe zwischen einem getauften Mann und einer getauften Frau Sakrament im eigentlichen Sinn ist und nur für diese die unbedingte Unauflöslichkeit gilt. Die Ehe von Ungetauften ist zwar auf die Unauflöslichkeit hingeordnet, kann aber unter Umständen – eines höheren Gutes wegen – aufgelöst werden (Privilegium Paulinum). Es handelt sich hier also nicht um eine Ausnahme vom Herrenwort. Die Unauflöslichkeit der sakramentalen Ehe, der Ehe im Raum des Christusmysteriums, bleibt gewahrt.

Von großer Bedeutung für die biblische Grundlegung des sakramentalen Eheverständnisses ist der Epheserbrief, in dem es heißt: „Ihr Männer, liebt eure Frauen, wie Christus die Kirche geliebt und sich für sie hingegeben hat" (Eph 5,25). Und etwas weiter schreibt der Apostel: „Darum wird der Mann Vater und Mutter verlassen und sich an seine Frau binden, und die zwei werden ein Fleisch sein. Dies ist ein tiefes Geheimnis; ich beziehe es auf Christus und die Kirche" (Eph 5,31-32). Die christliche Ehe ist ein wirksames Zeichen des Bundes zwischen Christus und der Kirche. Weil sie die Gnade dieses Bundes bezeichnet und mitteilt, ist die Ehe zwischen Getauften ein Sakrament.

Das Zeugnis der kirchlichen Tradition

Für die Herausbildung der kirchlichen Position bilden sodann die Kirchenväter und die Konzilien wichtige Zeugnisse. Für die Väter sind die biblischen Weisungen bindend. Sie lehnen die staatlichen Ehescheidungsgesetze als mit der Forderung Jesu unvereinbar ab. Die Kirche der Väter hat Ehescheidung und Wiederheirat zurückgewiesen, und zwar aus Gehorsam gegenüber dem Evangelium. In dieser Frage ist das Zeugnis der Väter eindeutig.

In der Väterzeit wurden geschiedene Gläubige, die zivil wieder geheiratet haben, auch nicht nach einer Bußzeit zu den Sakramenten zugelassen. Einige Vätertexte lassen wohl erkennen, dass Missbräuche nicht immer rigoros zurückgewiesen wurden und hin und wieder für sehr seltene Grenzfälle pastorale Lösungen gesucht wurden.

In manchen Gegenden kam es später, vor allem aufgrund der zunehmenden Verflechtung von Staat und Kirche, zu größeren Kompromissen. Im Osten setzte sich diese Entwicklung weiter fort und führte, besonders nach der Trennung von der Cathedra Petri, zu einer immer liberaleren Praxis. Heute gibt es in den orthodoxen Kirchen eine Vielzahl von Scheidungsgründen, die zumeist mit dem Verweis auf die Oikonomia, die pastorale Nachsicht in schwierigen Einzelfällen, gerechtfertigt werden, und den Weg zu einer Zweit- und Drittehe mit Bußcharakter öffnen. Mit dem Willen Gottes, wie er in den Worten Jesu über die Unauflöslichkeit der Ehe eindeutig zum Ausdruck kommt, ist diese Praxis nicht zu vereinbaren. Sie stellt jedoch ein nicht zu unterschätzendes ökumenisches Problem dar.

Im Westen wirkte die Gregorianische Reform den Liberalisierungstendenzen entgegen und stellte die ursprüngliche Auffassung der Schrift und der Väter wieder her. Die katholische Kirche hat die absolute Unauflöslichkeit der Ehe selbst um den Preis großer Opfer und Leiden verteidigt. Das Schisma einer vom Nachfolger Petri abgelösten „Kirche von England" erfolgte nicht aufgrund von Lehrdifferenzen, sondern weil der Papst dem Drängen von König Heinrich VIII. nach Auflösung seiner Ehe aus Gehorsam gegenüber dem Wort Jesu nicht nachkommen konnte.

Das Konzil von Trient hat die Lehre von der Unauflöslichkeit der sakramentalen Ehe bestätigt und erklärt, dass diese der Lehre des Evangeliums entspricht (vgl. DH 1807). Manchmal wird behauptet, dass die Kirche die orientalische Praxis faktisch toleriert habe. Das trifft aber nicht zu. Die Kanonisten sprachen immer wieder von einer missbräuchlichen Praxis. Und es gibt Zeugnisse, dass Gruppen orthodoxer Christen, die katholisch wurden, ein Glaubensbekenntnis mit einem ausdrücklichen Verweis auf die Unmöglichkeit von Zweit- und Drittehen zu unterzeichnen hatten.

Das Zweite Vatikanische Konzil hat in der Pastoralkonstitution Gaudium et spes über die „Kirche in der Welt von heute" eine theologisch und spirituell tiefe Lehre über die Ehe vorgelegt. Es hält klar und deutlich an der Unauflöslichkeit der Ehe fest. Die Ehe wird verstanden als umfassende leib-geistige Lebens- und Liebesgemeinschaft von Mann und Frau, die sich gegenseitig als Personen schenken und annehmen. Durch den personal freien Akt des wechselseitigen Ja-Wortes wird eine nach göttlicher Ordnung feste Institution begründet, die auf das Wohl der Gatten und der Nachkommenschaft hingeordnet ist und nicht mehr menschlicher Willkür unterliegt: „Diese innige Vereinigung als gegenseitiges Sich-Schenken zweier Personen wie auch das Wohl der Kinder verlangen die unbedingte Treue der Gatten und fordern ihre unauflösliche Einheit" (Nr. 48). Durch das Sakrament schenkt Gott den Gatten eine besondere Gnade: „Wie nämlich Gott einst durch den Bund der Liebe und Treue seinem Volk entgegenkam, so begegnet nun der Erlöser der Menschen und der Bräutigam der Kirche durch das Sakrament der Ehe den christlichen Gatten. Er bleibt fernerhin bei ihnen, damit die Gatten sich in gegenseitiger Hingabe und ständiger Treue lieben, so wie er selbst die Kirche geliebt und sich für sie hingegeben hat" (ebd.). Durch das Sakrament enthält die Unauflöslichkeit der Ehe einen neuen, tieferen Sinn: Sie wird zum Bild der beständigen Liebe Gottes zu seinem Volk und der unwiderruflichen Treue Christi zu seiner Kirche.

Man kann die Ehe nur im Kontext des Christusmysteriums als Sakrament verstehen und leben. Wenn man die Ehe säkularisiert oder als bloß natürliche Wirklichkeit betrachtet, bleibt der Zugang zur Sakramentalität verborgen. Die sakramentale Ehe gehört der Ordnung der Gnade an, sie ist hinein genommen in die endgültige Liebesgemeinschaft Christi mit seiner Kirche. Christen sind gerufen, ihre Ehe im eschatologischen Horizont der Ankunft des Reiches Gottes in Jesus Christus, dem Fleisch gewordenen Wort Gottes, zu leben.

Das Zeugnis des Lehramts in der Gegenwart

Das bis heute grundlegende Apostolische Schreiben Familiaris consortio, das Johannes Paul II. am 22. November 1981 im Anschluss an die Bischofssynode über die christliche Familie in der Welt von heute veröffentlichte, bestätigt nachdrücklich die dogmatische Ehelehre der Kirche. Es bemüht sich aber pastoral auch in der Sorge um die zivil wiederverheirateten Gläubigen, die in einer kirchlich gültigen Ehe noch gebunden sind. Der Papst zeigt ein hohes Maß an Sorge und Zuwendung. Die Nr. 84 „Wiederverheiratet Geschiedene" enthält folgende Grundaussagen: 1. Die Seelsorger sind aus Liebe zur Wahrheit verpflichtet, „die verschiedenen Situationen gut zu unterscheiden". Man darf nicht alles und alle gleich bewerten. 2. Die Seelsorger und die Gemeinden sind gehalten, den betroffenen Gläubigen in „fürsorgender Liebe" beizustehen. Auch sie gehören zur Kirche, haben Anspruch auf Seelsorge und sollen am Leben der Kirche teilnehmen. 3. Die Zulassung zur Eucharistie kann ihnen allerdings nicht gewährt werden. Dafür wird ein doppelter Grund genannt: a) „ihr Lebensstand und ihre Lebensverhältnisse stehen in objektivem Widerspruch zu jenem Bund der Liebe zwischen Christus und der Kirche, den die Eucharistie sichtbar und gegenwärtig macht"; b) „ließe man solche Menschen zur Eucharistie zu, bewirkte dies bei den Gläubigen hinsichtlich der Lehre der Kirche über die Unauflöslichkeit der Ehe Irrtum und Verwirrung". Eine Versöhnung im Bußsakrament, die den Weg zum Eucharistieempfang öffnet, kann es nur geben bei Reue über das Geschehene und „Bereitschaft zu einem Leben, das nicht mehr im Widerspruch zur Unauflöslichkeit der Ehe steht". Das heißt konkret: Wenn die neue Verbindung aus ernsthaften Gründen, etwa wegen der Erziehung der Kinder, nicht gelöst werden kann, müssen sich die beiden Partner „verpflichten, völlig enthaltsam zu leben". 4. Den Geistlichen wird aus inner sakramenten-theologischen und nicht aus legalistischen Zwang ausdrücklich verboten, für Geschiedene, die zivil wieder heiraten, „irgendwelche liturgische Handlungen vorzunehmen", solange eben die erste sakramental gültige Ehe noch besteht..

Das Schreiben der Glaubenskongregation über den Kommunionempfang von wiederverheirateten geschiedenen Gläubigen vom 14. September 1994 bekräftigt, dass die Praxis der Kirche in dieser Frage „nicht aufgrund der verschiedenen Situationen modifiziert werden kann" (Nr. 5). Zudem stellt es klar, dass die betroffenen Gläubigen nicht auf der Basis ihrer eigenen Gewissensüberzeugung zur heiligen Kommunion hinzutreten dürfen: „Im Falle, dass sie dies für möglich hielten, haben die Hirten und Beichtväter… die ernste Pflicht, sie zu ermahnen, dass ein solches Gewissensurteil in offenem Gegensatz zur Lehre der Kirche steht" (Nr. 6). Falls Zweifel über die Gültigkeit einer zerbrochenen Ehe bestehen, müssen diese durch die dafür kompetenten Ehegerichte überprüft werden (vgl. Nr. 9). Von fundamentaler Bedeutung bleibt, „in fürsorgender Liebe alles zu tun, was die Gläubigen, die sich in einer irregulären ehelichen Situation befinden, in der Liebe zu Christus und zur Kirche bestärken kann. Nur so wird es ihnen möglich sein, die Botschaft von der christlichen Ehe uneingeschränkt anzuerkennen und die Not ihrer Situation aus dem Glauben zu bestehen. Die Pastoral wird alle Kräfte einsetzen müssen, um glaubhaft zu machen, dass es nicht um Diskriminierung geht, sondern einzig um uneingeschränkte Treue zum Willen Christi, der uns die Unauflöslichkeit der Ehe als Gabe des Schöpfers zurückgegeben und neu anvertraut hat" (Nr. 10).

In dem nachsynodalen Apostolischen Schreiben Sacramentum caritatis vom 22. Februar 2007 fasst Benedikt XVI. die Arbeit der vorausgegangenen Bischofssynode zum Thema der Eucharistie zusammen und führt sie weiter fort. In Nr. 29 kommt er auf die Situation der wiederverheirateten geschiedenen Gläubigen zu sprechen. Auch für Benedikt XVI. handelt es sich hierbei um ein „dornenreiches und kompliziertes pastorales Problem". Er bekräftigt „die auf die Heilige Schrift (vgl. Mk 10,2-12) gegründete Praxis der Kirche, zivil wiederverheiratete Geschiedene nicht zu den Sakramenten zuzulassen", beschwört aber die Seelsorger geradezu, den Betroffenen „spezielle Aufmerksamkeit" zu widmen: „in dem Wunsch, dass sie so weit als möglich einen christlichen Lebensstil pflegen durch die Teilnahme an der heiligen Messe, wenn auch ohne Kommunionempfang, das Hören des Wortes Gottes, die eucharistische Anbetung, das Gebet, die Teilnahme am Gemeindeleben, das vertrauensvolle Gespräch mit einem Priester oder einem geistlichen Führer, hingebungsvoll geübte Nächstenliebe, Werke der Buße und den Einsatz in der Erziehung der Kinder". Wenn Zweifel an der Gültigkeit der in Brüche gegangenen ehelichen Lebensgemeinschaft bestehen, sind diese von den zuständigen Ehegerichten sorgsam zu prüfen. Die heutige Mentalität steht dem christlichen Eheverständnis, etwa bezüglich der Unauflöslichkeit der Ehe oder der Offenheit für Kinder, weithin entgegen. Weil viele Christen davon beeinflusst werden, sind in unseren Tagen Ehen wahrscheinlich häufiger ungültig als früher, weil es am Ehewillen im Sinn der katholischen Ehelehre mangelt und die Sozialisation im gelebten Raum des Glaubens zu gering ist. Darum ist eine Überprüfung der Gültigkeit der Ehe wichtig und kann zu einer Lösung von Problemen führen. Wo eine Ehenichtigkeit nicht festgestellt werden kann, setzen die Lossprechung und der Kommunionempfang gemäß der bewährten kirchlichen Praxis ein Zusammenleben „als Freunde, wie Bruder und Schwester" voraus. Segnungen von irregulären Verbindungen sind „in jedem Fall zu vermeiden…, damit unter den Gläubigen keine Verwirrungen in Bezug auf den Wert der Ehe aufkommen". Die Segnung (bene-dictio: Gutheißung von Gott her) einer Beziehung, die dem Willen Gottes entgegensteht, ist ein Widerspruch in sich.

In seiner Predigt beim VII. Weltfamilientreffen in Mailand am 3. Juni 2012 kam Benedikt XVI. wiederum auf dieses schmerzliche Problem zu sprechen: „Ein Wort möchte ich auch den Gläubigen widmen, die zwar die Lehre der Kirche über die Familie teilen, jedoch von schmerzlichen Erfahrungen des Scheiterns und der Trennung gezeichnet sind. Ihr sollt wissen, dass der Papst und die Kirche euch in eurer Not unterstützen. Ich ermutige euch, mit euren Gemeinden verbunden zu bleiben, und wünsche mir zugleich, dass die Diözesen geeignete Initiativen ergreifen, um euch aufzunehmen und Nähe zu vermitteln".

Die letzte Bischofssynode zum Thema „Die neue Evangelisierung für die Weitergabe des christlichen Glaubens" (7. – 28. Oktober 2012) hat sich erneut mit der Situation der Gläubigen beschäftigt, die nach dem Scheitern einer ehelichen Lebensgemeinschaft (nicht dem Scheitern der Ehe, die als Sakrament bestehen bleibt) eine neue Verbindung eingegangen sind und ohne sakramentales Eheband zusammenleben. In der Schlussbotschaft wandten sich die Synodenväter mit folgenden Worten an die betroffenen Gläubigen: „Allen jenen möchten wir sagen, dass die Liebe des Herrn niemand allein lässt, dass auch die Kirche sie liebt und ein einladendes Haus für alle ist, und dass sie Glieder der Kirche bleiben, auch wenn sie die sakramentale Lossprechung und die Eucharistie nicht empfangen können. Die katholischen Gemeinschaften mögen gastfreundlich gegenüber all jenen sein, die in einer solchen Situation leben, und Wege der Versöhnung unterstützen".

Anthropologische und sakramententheologische Erwägungen

Die Lehre über die Unauflöslichkeit der Ehe stößt in einer säkularisierten Umwelt häufig auf Unverständnis. Wo die Grundeinsichten des christlichen Glaubens verloren gegangen sind, vermag eine bloß konventionelle Zugehörigkeit zur Kirche wichtige Lebensentscheidungen nicht mehr zu tragen und in Krisen im Ehestand – wie auch im Priester- und Ordensleben – keinen Halt mehr zu bieten. Viele fragen sich: Wie kann ich mich für das ganze Leben an eine einzige Frau bzw. an einen einzigen Mann binden? Wer kann mir sagen, wie es mir in zehn, zwanzig, dreißig, vierzig Jahren in der Ehe gehen wird? Ist eine endgültige Bindung an eine einzelne Person überhaupt möglich? Die vielen ehelichen Gemeinschaften, die heute zerbrechen, verstärken die Skepsis der Jugend gegenüber definitiven Lebensentscheidungen.

Andererseits hat das in der Schöpfungsordnung begründete Ideal der Treue zwischen einem Mann und einer Frau nichts von seiner Faszination verloren, wie aus neueren Umfragen unter jungen Menschen hervorgeht. Die meisten von ihnen sehnen sich nach einer stabilen, dauerhaften Beziehung, wie sie auch der geistigen und sittlichen Natur des Menschen entspricht. Darüber hinaus ist an den anthropologischen Wert der unauflöslichen Ehe zu erinnern: Sie entzieht die Partner der Willkür und der Tyrannei der Gefühle und Stimmungen. Sie hilft ihnen, persönliche Schwierigkeiten durchzustehen und leidvolle Erfahrungen zu überwinden. Sie schützt vor allem die Kinder, die am Zerbrechen der Ehen am meisten zu leiden haben.

Die Liebe ist mehr als Gefühl und Instinkt. Sie ist ihrem Wesen nach Hingabe. In der ehelichen Liebe sagen zwei Menschen wissentlich und willentlich zueinander: nur du – und du für immer. Dem Wort des Herrn "Was Gott verbunden hat…" entspricht das Versprechen der Brautleute: „Ich nehme dich an als meinen Mann… Ich nehme dich an als meine Frau… Ich will dich lieben, achten und ehren, solange ich lebe, bis der Tod uns scheidet." Der Priester segnet den Bund, den die Brautleute miteinander vor Gottes Angesicht geschlossen haben. Wer Zweifel hat, ob das Eheband von ontologischer Qualität ist, möge sich vom Wort Gottes belehren lassen: „Am Anfang hat Gott Mann und Frau geschaffen. Darum wird der Mann Vater und Mutter verlassen und sich an seine Frau binden und die zwei werden ein Fleisch sein. Sie sind also nicht mehr zwei, sondern eins" (Mt 19,4-6).

Für Christen gilt, dass die Ehe von Getauften, die in den Leib Christi eingegliedert sind, sakramentalen Charakter hat und damit eine übernatürliche Wirklichkeit darstellt. Ein ernstes pastorales Problem besteht darin, dass manche heute die christliche Ehe ausschließlich mit weltlichen und pragmatischen Kriterien beurteilen. Wer nach dem „Geist der Welt" (1 Kor 2,12) denkt, kann die Sakramentalität der Ehe nicht begreifen. Dem wachsenden Unverständnis gegenüber der Heiligkeit der Ehe kann die Kirche nicht entsprechen durch pragmatische Anpassung an das vermeintlich Unausweichliche, sondern nur durch das Vertrauen auf „den Geist, der aus Gott stammt, damit wir erkennen, was uns von Gott geschenkt worden ist" (1 Kor 2,12). Die sakramentale Ehe ist ein Zeugnis für die Macht der Gnade, die den Menschen verwandelt und die ganze Kirche vorbereitet für die heilige Stadt, das neue Jerusalem, die Kirche, die bereit ist „wie eine Braut, die sich für ihren Mann geschmückt hat" (Offb 21,2). Das Evangelium von der Heiligkeit der Ehe ist in prophetischem Freimut zu verkünden. Ein müder Prophet sucht in der Anpassung an den Zeitgeist sein Heil, aber nicht das Heil der Welt in Jesus Christus. Die Treue zum Jawort der Ehe ist ein prophetisches Zeichen für das Heil, das Gott der Welt schenkt. „Wer es fassen kann, der fasse es!" (Mt 19, 12). Durch die sakramentale Gnade wird die eheliche Liebe gereinigt, gestärkt und erhöht. „Diese Liebe, die auf gegenseitiger Treue gegründet und durch Christi Sakrament geheiligt ist, bedeutet unlösliche Treue, die in Glück und Unglück Leib und Seele umfasst und darum unvereinbar ist mit jedem Ehebruch und jeder Ehescheidung" (Gaudium et spes, Nr. 49). Die Gatten haben kraft des Ehesakramentes an der endgültigen, unwiderruflichen Liebe Gottes teil. Sie können deshalb Zeugen der treuen Liebe Gottes sein, müssen ihre Liebe aber beständig nähren durch ein Leben aus dem Glauben und der Liebe.

Freilich gibt es Situationen – jeder Seelsorger weiß darum –, in denen das eheliche Beisammensein aus schwerwiegenden Gründen, etwa aufgrund von physischer oder psychischer Gewalt, praktisch unmöglich wird. In solchen Härtefällen hat die Kirche immer gestattet, dass sich die Gatten trennen und nicht länger zusammen wohnen. Dabei ist aber zu bedenken, dass das Eheband einer gültigen Ehe vor Gott weiterhin aufrecht bleibt und die einzelnen Partner nicht frei sind, eine neue Ehe zu schließen, solange der Ehepartner am Leben ist. Die Seelsorger und die christlichen Gemeinschaften müssen sich dafür einsetzen, Wege der Versöhnung auch in diesen Fällen zu fördern oder, falls dies nicht möglich ist, den betroffenen Menschen zu helfen, ihre schwierige Situation im Glauben zu bewältigen.

Moraltheologische Anmerkungen

Immer wieder wird vorgeschlagen, man soll wiederverheiratete Geschiedene selber in ihrem Gewissen entscheiden lassen, ob sie zur Kommunion hinzutreten oder nicht. Dieses Argument, dem ein problematischer Begriff von „Gewissen" zugrunde liegt, wurde bereits im Schreiben der Glaubenskongregation von 1994 zurückgewiesen. Natürlich müssen sich die Gläubigen bei jeder Messfeier im Gewissen prüfen, ob ein Kommunionempfang möglich ist, dem eine schwere nicht gebeichtete Sünde immer entgegensteht. Sie haben dabei die Pflicht, ihr Gewissen zu bilden und an der Wahrheit auszurichten. Dabei hören sie auch auf das Lehramt der Kirche, das ihnen hilft, „nicht von der Wahrheit über das Gute des Menschen abzukommen, sondern, besonders in den schwierigeren Fragen, mit Sicherheit die Wahrheit zu erlangen und in ihr zu bleiben" (Johannes Paul II., Enzyklika Veritatis splendor, Nr. 64). Wenn wiederverheiratete Geschiedene in ihrem Gewissen subjektiv der Überzeugung sind, dass eine vorausgehende Ehe nicht gültig war, muss dies objektiv durch die zuständigen Ehegerichte nachgewiesen werden. Die Ehe betrifft nämlich nicht nur die Beziehung zweier Menschen zu Gott, sie ist auch eine Wirklichkeit der Kirche, ein Sakrament, über dessen Gültigkeit nicht der einzelne für sich, sondern die Kirche entscheidet, in die er durch Glaube und Taufe eingegliedert ist. „Wenn die vorausgehende Ehe von wiederverheirateten geschiedenen Gläubigen gültig war, kann ihre neue Verbindung unter keinen Umständen als rechtmäßig betrachtet werden, daher ist ein Sakramentenempfang aus inneren Gründen nicht möglich. Das Gewissen des einzelnen ist ausnahmslos an diese Norm gebunden" (Kardinal Joseph Ratzinger, Die Ehepastoral muss auf der Wahrheit gründen: L’Osservatore Romano. Wochenausgabe in deutscher Sprache, 9. Dezember 2011, S. 7).

Auch die Lehre von der Epikie, wonach ein Gesetz zwar allgemein gilt, aber das konkrete menschliche Handeln nicht immer angemessen abdeckt, kann hier nicht angewandt werden, weil es sich bei der Unauflöslichkeit der sakramentalen Ehe um eine göttliche Norm handelt, über die die Kirche keine Verfügungsgewalt hat. Die Kirche hat jedoch – auf der Linie des Privilegium Paulinum – die Vollmacht, zu klären, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit eine im Sinne Jesu unauflösliche Ehe zustande kommt. Sie hat, davon ausgehend, Ehehindernisse festgelegt, Gründe für die Ehenichtigkeit erkannt und ein ausführliches Prozessverfahren entwickelt.

Ein weiterer Vorschlag für die Zulassung wiederverheirateter Geschiedener zu den Sakramenten plädiert mit dem Argument der Barmherzigkeit. Da Jesus sich selbst mit den Notleidenden solidarisiert und ihnen seine erbarmende Liebe geschenkt habe, sei die Barmherzigkeit ein besonderes Zeichen wahrer Nachfolge. Dies ist richtig, greift aber als sakramenten-theologisches Argument zu kurz. Denn die ganze sakramentale Ordnung ist ein Werk göttlicher Barmherzigkeit und kann nicht mit Berufung auf dieselbe aufgehoben werden. Durch die sachlich falsche Berufung auf die Barmherzigkeit besteht zudem die Gefahr einer Banalisierung des Gottesbildes, wonach Gott nichts anderes vermag, als zu verzeihen. Zum Geheimnis Gottes gehören neben der Barmherzigkeit auch seine Heiligkeit und Gerechtigkeit. Wenn man diese Eigenschaften Gottes unterschlägt und die Sünde nicht ernst nimmt, kann man den Menschen letztlich auch nicht seine Barmherzigkeit vermitteln. Jesus begegnete der Ehebrecherin mit großem Erbarmen, sagte ihr aber auch: „Geh und sündige von jetzt an nicht mehr" (Joh 8,11). Die Barmherzigkeit Gottes ist keine Dispens von den Geboten Gottes und den Weisungen der Kirche. Sie verleiht vielmehr die Kraft der Gnade zu ihrer Erfüllung, zum Wiederaufstehen nach dem Fall und zu einem Leben in Vollkommenheit nach dem Bild des himmlischen Vaters.

Die pastorale Sorge

Auch wenn eine Zulassung von wiederverheirateten Geschiedenen zu den Sakramenten aus ihrer inneren Natur heraus nicht möglich ist, sind umso mehr die pastoralen Bemühungen um diese Gläubigen geboten, wobei diese auf die offenbarungstheologischen und lehramtlichen Vorgaben der Kirche verwiesen bleiben. Der von der Kirche aufgezeigte Weg ist für die Betroffenen nicht einfach. Sie dürfen aber wissen und spüren, dass die Kirche als Heilsgemeinschaft ihren Weg begleitet. Indem die Partner sich bemühen, die Praxis der Kirche zu verstehen und nicht zur Kommunion zu gehen, legen sie auf ihre Weise Zeugnis für die Unauflöslichkeit der Ehe ab.

Die Sorge um wiederverheiratete Geschiedene darf freilich nicht auf die Frage des Eucharistieempfangs reduziert werden. Es geht um eine umfassendere Pastoral, die versucht, den unterschiedlichen Situationen möglichst gerecht zu werden. Wichtig ist dabei, dass es außer der sakramentalen Kommunion noch andere Weisen der Gemeinschaft mit Gott gibt. Verbindung zu Gott gewinnt man, wenn man sich ihm in Glaube, Hoffnung und Liebe, in Reue und Gebet zuwendet. Gott kann den Menschen auf unterschiedlichen Wegen seine Nähe und sein Heil schenken, auch wenn sie sich in einer widersprüchlichen Lebenssituation befinden. Wie die neueren Dokumente des kirchlichen Lehramts durchgängig unterstreichen, sind die Seelsorger und die christlichen Gemeinden gerufen, die Menschen in irregulären Situationen offen und herzlich aufzunehmen, ihnen einfühlsam und helfend zur Seite zu stehen und sie die Liebe des Guten Hirten spüren zu lassen. Eine in Wahrheit und Liebe gründende Seelsorge wird dafür immer wieder neu die rechten Wege und Formen finden. (rv)

Vatikan/England: „Bewusstseinsbildung in Sachen Missbrauch muss immer weitergehen“

Der Wille zur Aufklärung und Prävention von sexuellem Missbrauch durch Kleriker zeigt sich im Befolgen der päpstlichen Lehre; Benedikt XVI. sei der „perfekte Steuermann", um das „Schiff Petri" aus diesem Sturm herauszufahren. Das hat jetzt der Missbrauchsbeauftragte der vatikanischen Kongregation für die Glaubenslehre betont. Der aus Malta stammende Priester Charles Scicluna hält sich in diesen Tagen in London auf, wo er an einem Theologenkongress zum Thema Missbrauch teilnahm. Auf die Frage unserer englischen Kollegin, ob es im Vatikan bis jetzt eine ausreichende Reflektion darüber gegeben habe, welche Strukturen Missbrauch begünstigen können, sagte Scicluna:

„Der Wille dazu ist klar, wenn die Lehre des Heiligen Vaters befolgt wird. Wir wissen, dass er klare und theologisch fundierte Worte zum Thema findet, aber auch sehr inspirierende Worte, für alle. Der Vatikan ist aus Menschen gemacht, und wir sind alle auf dem Weg der Bekehrung. Aber wenn wir sagen wollen, wo das Schiff Petri hinfährt, müssen wir darauf schauen, wer es fährt. Meiner Meinung nach ist Benedikt XVI. der perfekte Steuermann in diesen Fragen. Hier gibt es eine unbestrittene Führerschaft."

In der interdisziplinären Aufarbeitung des Missbrauchsskandals sieht Scicluna große Chancen für den Kampf gegen das Phänomen. Auf der Konferenz von London sei einmal mehr klar geworden, dass es eine Öffnung der Diskussion brauche, die Bewusstseinsbildung müsse immer weitergehen:

„Wir müssen weiter offen sein gegenüber Diskussionen, die inklusiv sind (…) Das bedeutet, die Mitverantwortung der Laien und der Theologen zu stärken, damit sie eine kirchliche Realität im eigentlichen Sinne lehren. Sie versuchen Antworten auf die Folgen von Machtmissbrauch zu geben, und dazu gehört auch der sexuelle Missbrauch von Minderjährigen, eine Plage in der Kirche." (rv)