Ägypten: Blutige Nacht in Kairo

Schwere Zusammenstöße in Ägyptens Hauptstadt Kairo: Mindestens 36 Menschen, die meisten christliche Kopten, wurden letzte Nacht am Rand einer Demonstration getötet. Mehr als 320 Menschen sollen verletzt worden sein. Es waren die schwersten Ausschreitungen in Ägypten seit dem Sturz des früheren Präsidenten Hosni Mubarak. Aber der Sprecher der (katholischen) griechisch-melkitischen Kirche Ägyptens, Rafic Greiche, präzisiert:

„Das ist nicht das erste Mal seit der Revolution überhaupt, dass so etwas passiert – es ist vielmehr schon das dritte Mal innerhalb von neun Monaten. Und es liegt daran, dass die Regierung nichts für die Sicherheit tut. Schon zu Zeiten des alten Regimes Mubarak kam es manchmal zu solchen Konflikten, Kirchen brannten undsoweiter: Aber die Regierung sorgte immer wieder schnell für Sicherheit. Das ist jetzt nicht mehr so. Um zwei Uhr nachts hat der Premierminister die Menschen einfach gebeten, sich zu beruhigen; er hat aber keinerlei Befehle erteilt oder klare Entscheidungen getroffen!"

Der hier kritisierte Premierminister Essam Sharaf meinte in einer ersten Reaktion, Ägypten sei „in Gefahr": Der Konflikt zwischen Muslimen und Christen bedeute das „schwerwiegendste Risiko für die Sicherheit des Landes". Offenbar, so erklärt er, gebe es Kräfte, die vor den Wahlen Chaos im Land hervorrufen wollten und denen daran gelegen sei, „einen Keil zwischen Militär und Bevölkerung zu treiben". Die ägyptische Militärführung verhängte eine Ausgangssperre für die Nachtstunden. An diesem Nachmittag will das Militärregime ein Krisentreffen abhalten. Die Generäle haben die Regierung zu einer gründlichen Untersuchung aufgefordert. Aber der Melkiten-Sprecher hält das für nicht hinreichend:

„Die tun überhaupt nichts, in allen Bereichen, nicht nur in der Krise zwischen Christen und Muslimen. Darum hält diese Spannung an. Ich bitte den Papst und die ganze christliche Welt, für uns zu beten, denn das ist wirklich ein schwieriger Moment, und wir haben keinerlei Hoffnung. Vielleicht beruhigt sich die Lage nach dem Krisentreffen von diesem Montag wieder ein bisschen, und in ein paar Monaten kommt dann alles wieder hoch…"

Zunächst friedlich hatten in Kairo mehrere tausend Christen gegen ein Attentat islamischer Fundamentalisten auf eine Kirche in der südlichen Region Assuan demonstriert. Als der Demonstrationszug das Gebäude des staatlichen Fernsehens erreicht hatte, kam es zu ersten Zusammenstößen. Demonstranten warfen Steine auf Polizisten und Soldaten, die das Gebäude bewachten, und setzten Autos in Brand. Die Sicherheitskräfte gaben Schüsse in die Luft ab und setzten Tränengas ein, um die Menge auseinanderzutreiben. In anderen Berichten heißt es, zwei Panzerwagen der Armee seien mitten in die Menge gefahren und hätten mehrere Demonstranten überrollt. Vierzig Personen sollen festgenommen worden sein. Der Bischof von Giza, Antonios Aziz Mina, betont im Interview mit uns:

„Ich muss sagen, dass auch einige Muslime bei der Demonstration an der Seite der Kopten mitgemacht haben: Auch sie forderten für die Christen das Recht, in Frieden zu leben, und dass ihre Kirchen Schutz erfahren, statt niedergebrannt und zerstört zu werden. Leider haben Übeltäter, die in den Tagen nach der Revolution eine Kirche zerstört haben, festgestellt, dass sie damit straflos davonkommen. Das Militär hat entschieden, die Kirche auf seine eigenen Kosten wiederaufzubauen – aber das ist keine Lösung!"

Viele Christen fordern weiterhin einen Rücktritt des Gouverneurs von Assuan, dem sie vorwerfen, nichts gegen die Kirchenzerstörung in seiner Provinz Ende September getan zu haben. Außerdem fordern sie Polizeischutz für Kirchen und ein Recht auf Kirchenbau. Eine islamisch-koptische Dialoggruppe in Kairo fordert in einem Statement an diesem Montag klare, durchsichtige Regeln für Kirchenbau in Ägypten. Bischof Mina:

„Wenn wir so weitermachen, dann gibt es im neuen Ägypten kein Recht und keine Gerechtigkeit. Dabei wäre das das erste Element eines stabilen Staates: das Recht!"

Der Großimam der islamischen Universität al-Azhar in Kairo, Ahmed al-Tayyeb, ruft zu „dringenden Gesprächen" zwischen muslimischen und christlichen Führern auf, „um die Krise einzudämmen. Das berichtet das ägyptische Fernsehen. Tayyeb habe bereits mit dem koptischen Patriarchen, Papst Shenuda III. von Alexandria, gesprochen. Aus Trauer um die Opfer wollen die koptischen Christen drei Tage lang fasten und beten. Die Kopten stellen in Ägypten ungefähr zehn Prozent der Bevölkerung, sie sind überwiegend orthodox, nur ein kleiner Teil gehört der katholischen Kirche an. (rv)

Kardinal Sandri: „Sinnlose Gewalt“

Drei Dutzend Tote in Kairo bei Ausschreitungen zwischen Kopten und Muslimen: Kardinal Leonardo Sandri leitet die Ostkirchen-Kongregation des Vatikans. Wir fragten ihn an diesem Montag, wie der Vatikan auf die Unruhen in Kairo reagiert.

„Wir haben für die Opfer dieser Zusammenstöße gebetet. Unsere koptisch-orthodoxen Brüder, die das Attentat auf eine ihrer Kirchen erleben mussten, wollten wie alle Bürger für ihren Wunsch nach Religionsfreiheit und nach Respekt ihrer Rechte demonstrieren. Stattdessen mussten sie den bitteren Kelch des Todes und des Opfers trinken. Wir vereinen uns im Gebet mit der koptisch-orthodoxen Kirche, mit den Opfern dieser sinnlosen Gewalt, und wir beten auch für unsere katholischen Kopten, auf dass der Schatten dieser Gewalt gegen Kopten nicht auch auf sie fallen möge. Es ist eine kleine Gemeinschaft, aber sehr engagiert für den Frieden. Und wir beten auch darum, dass dieser so genannte Arabische Frühling wirklich ein Vorschuss auf den Frieden sein möge, den alle sich wünschen. Wir beten für Demokratie, für den Respekt der Religionsfreiheit und der Minderheiten, dafür, dass alle sich Hoffnung machen können auf eine sichere Zukunft." (rv)

Ägypten: Hoffnung nach neuen Zusammenstößen

Nach den schweren Zusammenstößen zwischen Kopten und Muslimen in Kairo in der Nacht auf Sonntag hat das Oberhaupt der orthodoxen Kopten die Christen dazu aufgefordert, ihren Sitzstreik im Zentrum der Hauptstadt zu beenden. Papst Shenouda III. sagte, der Protest lade die ohnehin schon gespannte Situation zwischen Kopten und Muslimen noch weiter auf. Er warnte zudem davor, dass die ägyptische Interimsregierung unter Führung der Streitkräfte dabei sei, die Geduld mit den Demonstranten zu verlieren. Zuvor hatte eine wütende Menge in Kairo die christlichen Demonstranten mit Steinen und Brandsätzen angegriffen, zwei Menschen starben. Jetzt nicht weiter Öl ins Feuer zu gießen, ist auch das Anliegen der koptischen Katholiken. (rv)

Ägypten: Brennende Kirchen Zeichen für soziale Unruhen

„Fanatiker gefährden Ägyptens Zukunft" und „In Kairo brennen wieder die Kirchen". So lauten die Überschriften über Berichte in den internationalen Medien über die Vorkommnisse in Kairo am vergangenen Wochenende. Zehn Menschen seien bei gewaltsamen Angriffen auf Kopten und ihre Kirchen getötet worden, so heißt es.
Der Auslöser war ein Gerücht: Eine 26jährige Frau sei gezwungen worden, Christin zu werden, um einen Christen heiraten zu können. Hunderte von Muslimen der radikalen Bewegung der Salafisten versammelten sich vor der Kirche und forderten ihre Freilassung, die Kopten stellten sich schützend vor ihre Kirche. Das Ergebnis: Zehn Tote, fast 200 Verletzte, vier abgebrannte christliche Kirchen, Militäreinsatz, Eskalation. Radio Vatikan hat mit dem Pfarrer der deutschsprachigen Gemeinde in Kairo, Joachim Schrödel, gesprochen.
„Man muss natürlich den Hintergrund etwas genauer kennen. Der Stadtbezirk, in dem sich die Unruhen entfaltet haben ist der Bezirk Imbaba und wenn man etwas in die Geschichte hineingeht, dann weiß man, dass Imbaba schon in den 90er Jahren eine islamistische Ecke war. Darauf hatte dann der Staat reagiert um dieses absolut überbevölkerte Gebiet mit etwa einer Million Menschen etwas auf einen höheren Standard zu heben. Das ist der eigentliche Grund, dort ist eine so gespannte Situation und es kann jederzeit immer wieder etwas explodieren. Und die Ägypter sind alle entsetzt, die Situation ist ärgerlich – gerade für die, die mitarbeiten wollen an einem guten neuen Ägypten – desaströs."
Eine ganz ähnliche Situation hat es zu Beginn des Jahres gegeben, noch vor den politischen Unruhen und Umstürzen. Hat das eine mit dem anderen zu tun?
„Ich sehe das nicht so. Ich sehe auch keinen zugespitzten Kampf der Religionen oder so ähnlich, Die Muslime gegen Die Christen, wie man das gerne formuliert. Man muss ganz genau mit dem Vergrößerungsglas hinschauen, was sich da abspielt und in welcher Situation die Menschen leben. Immer wieder sind es die Krisenherde, oder, wie wir sagen würden, die sozialen Brennpunkte, an denen sich etwas entfacht, was sich leider oftmals zwischen Christen und Muslimen abspielt. Ich warne aber davor, auch von westlicher Seite aus zu sagen, dass jetzt die Muslime die Macht ergreifen wollten. Es handelt sich nach wie vor um singuläre Ereignisse."
Wohin geht es als Nächstes? Was sind mögliche Schritte in die Zukunft?
„Zunächst einmal muss, egal ob es Christen oder Muslime betrifft, die soziale Situation gehoben werden. Und zweitens dann die Bildungssituation. Die soziale Situation ist ja immer noch so, vielleicht sogar noch schlimmer als vor dem Sturz von Mubarak, dass die Menschen gar nicht das zum Leben Notwendigste haben. Und dann passieren eben Zusammenstöße zwischen den Religionen. Noch einmal: Ich glaube nicht, dass das ein Hauptgrund ist, sondern dass die Armut der Menschen von einigen sehr wenigen radikalen Elementen – und das sind nicht die Muslimbrüder, wie sich herausstellt, sondern das sind die Salafiten, also eine Gruppe, von denen der Großmufti gestern gesagt hat, dass sie keine Muslime seien, wie sie sich gebärdeten – Die Situation muss sich aber ändern. Es müssen Strukturen geschaffen werden, es müssen Arbeitsplätze geschaffen werden und das ist eine riesige Aufgabe und das bedeutet die Änderung der sozialen Situation und das Aufbauen eines Miteinanders. Ich formuliere manchmal: Wir brauchen keine Demokratie in Ägypten, wir brauchen eine ‚Demodoulie’, wenn man das Wort denn prägen kann, also dass das Volk dient, und zwar einander, und nicht gegeneinander arbeitet."
Ein Blick über Ägypten hinaus: Syrien. Viele Menschen, auch Bischöfe, sagen, dass das Regime dort Christen schütze. Andere, unter anderem auch Sie, sagen, dass sich Christen am Protest gegen Assad beteiligen. Die Rückmeldungen hier bei uns im Radio kommen ebenfalls von beiden Seiten. Wie ist denn das einzuschätzen? Unterstützen Christen Assad? Sind sie sich uneins? Regiert die Angst, dass dasselbe passieren könnte, was jetzt in Ägypten passiert?
„Wir hatten in Ägypten ja auch eine interessante Bewegung der lokalen Christenheit. Zunächst einmal hatte Papst Shenuda sehr eindringlich gewarnt und seine Christen aufgerufen, sich nicht an den Demonstrationen zu beteiligen. Ähnlich verhalten sich nun wohl auch die Christen in Syrien. Sie verhielten sich jedenfalls so, abwartend, denn es ging ihnen gut. Weil es kein explizit islamischer Staat ist, waren sie gut in die Bevölkerungsstruktur integriert. Ich glaube allerdings nicht, dass es jetzt eine stärkere Gruppierung innerhalb der christlichen Minderheiten gebe, die jetzt noch das Regime Assad explizit oder implizit unterstützen würden. Man merkt inzwischen schon, dass der große Druck nicht nur von einer bestimmten Seite kommt, der Druck auf das Regime kommt von allen Seiten. Das Dramatische ist natürlich, dass, ganz anders als in Ägypten, Syrien mit harter Gewalt reagiert." (rv)

Ägypten: „Gemeinsam den Mord an Kopten aufklären“

Gut eine Woche nach dem tödlichen Anschlag auf Kopten in Ägypten hoffen die Christen immer noch auf Aufklärung der Attacke. In der oberägyptischen Stadt Nag Hamadi waren am Vorabend des koptischen Weihnachtsfestes sieben Christen erschossen worden. Dabei entging der Bischof von Nag Hamadi nur um wenige Minuten dem Tod. Bischof Kyrillos William von Assiut vermutet hinter der Aggression religiöse Fanatiker. Kyrillos hält sich gerade für drei Tage in Rom auf. Im Interview mit Radio Vatikan sagte er: „In den Maße und an dem Tag und dann auf diese Gruppe – meiner Meinung nach steckt etwas Religiöses dahinter. Wenn so etwas wiederholt passiert, sollte man eine richtige Lösung dafür finden, und dafür müssen alle zusammen arbeiten.“ In den letzten 30 Jahren habe religiöser Fanatismus in Ägypten zugenommen, so der Bischof. Ursachen dafür seien nicht nur Armut und Arbeitslosigkeit, sondern ein Gesellschaftssystem, in dem Christen als „Menschen zweiter Kategorie“ angesehen würden. „In den Schulen werden die Kinder zum Hass erzogen und dazu, nicht mit „den Ungläubigen“ – so nennen sie die Christen – zu reden, ihnen bei Festen nicht zu gratulieren und keine Freundschaft zu schließen. Wir müssen die Schulprogramme überarbeiten, den Dialog und Respekt gegenüber den anderen darin festlegen. Zweitens hört man so fanatische Predigten, in denen gegen Christen gehetzt wird. In den Moscheen enden die Freitagsgebete oft mit Worten gegen Christen und Juden. Und drittens die Medien: Im Fernsehen gibt es viele Kanäle mit religiösen Sendungen und Hasspredigten, das muss man kontrollieren!“ (rv)