Der chinesische Philosoph und Menschenrechtler Liu Xiaobo erhält den Friedensnobelpreis 2010. Prämiert wird damit sein langjähriger und gewaltloser Einsatz für Menschenrechte in China, teilte die Jury an diesem Freitag mit. Liu Xiaobo war erst kürzlich wegen angeblicher Untergrabung der Staatsgewalt zu 11 Jahren Haft verurteilt wurde; er ist Mitverfasser der so genannten „Charta 08", in welcher zu Reformen aufgerufen wird. Die Entscheidung des Nobelkomitees für Liu könne als positives Zeichen gewertet werden. Das meint Monsignore Bruno Fabio Pighin, Herausgeber des Buches „Kirche und Staat in China", das am Freitagabend in der italienischen Botschaft am Heiligen Stuhl vorgestellt wurde.
„Die Entscheidung des Nobelkomitees steht meiner Meinung nach für das große weltweite Interesse an der Situation in China. Es scheint, dass sich China hin zu einer Öffnung bewegt, eine Öffnung zwischen Ost und West."
Diese Öffnung schlägt sich sichtbar vor allem im wirtschaftlichen und zum Teil kulturellen Bereich nieder: Man denke an die Weltausstellung in Shanghai oder die Olympischen Spiele in Peking…
„In der Tat müsste sie sich nun auch auf die rechtliche und religiöse Ebene erstrecken. Die chinesische Verfassung hat Besonderheiten, die sie von der Staatskonstitution an sich entfernen: Marxismus und Atheismus sind eigene Realitäten, fast eine Art Dogma. Und obwohl hier auch Religionsfreiheit zuerkannt wird, ist diese in China stark von diesen Elementen bestimmt. Ich meine, dass der chinesische Staat im vollen Sinne weltlich sein sollte, also aus Atheismus keine Religion machen sollte. Das würde die inländische und internationale Situation sehr begünstigen. China müsste zum Beispiel verstehen, dass dem Land ein gutes Verhältnis zur katholischen Kirche auch auf internationalem Niveau gut tun würde."
Kann man im Bereich Religionsfreiheit in China in letzter Zeit von Fortschritten sprechen?
„Fortschritte gibt es, wenn sie auch teilweise nicht eklatant sind. Zu den Fortschritten gehören zum Beispiel die Weihen der letzten acht katholischen Bischöfe, die sowohl durch den chinesischen Staat als auch den Vatikan anerkannt wurden. In der Vergangenheit wurden ja auch Bischöfe ernannt, die der Heilige Stuhl für nicht geeignet hielt. Und dann sind, das hat der Heilige Vater ja in seinem Brief von 2007 benannt, Verhandlungen in Gang zwischen dem Vatikan und China. Auch wenn die Ergebnisse nicht öffentlich bekannt sind, haben sie sich seit 2007 weiterentwickelt. Und diese Absprachen sind jenseits der sichtbaren Fakten auch wahrnehmbar: Einerseits in der Kontrolle der Regierung. Und dann sind sie aber auch ablesbar an einem vielleicht stärkeren Verantwortungssinn gegenüber denjenigen, die in China Religion verwalten und leben."
Was hat Papst Benedikt XVI. zu dieser Entwicklung beigetragen?
„Der Papst hat es verstanden, mit dem chinesischen Staat wieder in Dialog zu treten, und das hat große Erleichterung gebracht. Papst Johannes Paul II. hat entschieden, die chinesischen Märtyrer just am Tag der Republik kanonisieren, und das wurde als Herausforderung begriffen. Der jetzige Papst fordert nicht heraus, sondern bietet Dialog an. Er sagt: Beide Seiten sollten sich konstruktiv austauschen und gemeinsame Abmachungen treffen können."
Und was hatte diese Herangehensweise des Papstes für Auswirkungen auf die Kirche Chinas?
„Papst Benedikts Verdienst ist, dass er für Einheit plädiert. In seinem Brief von 2007 sagt er: Die Kirche ist eins, und auch die Mitglieder der Untergrundkirche sollten die Legitimierung durch die Regierung erhalten. Denn ansonsten können die Geistlichen nicht ihren Dienst leisten. Wir befinden uns damit in einer neuen Phase. Und deshalb kann man meiner Meinung nach heute auch nicht mehr von zwei Kirchen in China sprechen – ich denke, das gehört der Vergangenheit an. Ebenso kann man nicht mehr von Verfolgung oder Unterdrückung, sondern eher von Kontrolle sprechen. Und in diesem Rahmen kann die Kirche ihren Platz finden."
Das Interesse der Chinesen am spirituellen Bereich steigt oder kommt in den letzten Jahren stärker hervor. Auch der Katholizismus hat Zulauf, was sich zum Beispiel an der Zahl der Erwachsenentaufen ablesen lässt. Nach Ihren Schätzungen lassen sich in China pro Jahr etwa 150.000 Erwachsene taufen. Wie erklären Sie sich diese Tendenz?
„Es ist sicher wahr, dass das Christentum für die Chinesen immer attraktiver wird. Ich denke, dass der Atheismus eine spirituelle Leere hinterlassen hat, die bisher nicht durch ungezügelten Konsumismus oder den Weg zu mehr Wohlstand gefüllt werden konnte. Man muss sich ja nur Shanghai anschauen, dass sich luxuriöser und fortschrittlicher als New York präsentiert. Diese Leere ist also bisher nicht gefüllt worden: Die chinesische Philosophie erlebt zur Zeit zwar ein großes Comeback von Konfuzius, aber das ist keine wirkliche Religion. Und so fühlen die Chinesen die Notwendigkeit von etwas Transzendentem, nicht nur einer Philosophie. Und hier, so glaube ich, hat die katholische Kirche oder allgemein das Christentum sicher viel anzubieten." (rv)