Christus kam nur bis Pennsylvania

Warum die aktuelle Missbrauchskrise in den Vereinigten Staaten nicht nur Kardinäle betrifft, sondern auch den Papst in Rom.

Am 14. August präsentierte der Generalstaatsanwalt von Pennsylvania den Grand Jury-Bericht über die sexuellen Vergehen katholischer Priester in sechs Diözesen über einen Zeitraum von siebzig Jahren. Kurz darauf erhob CNN, dass nur noch etwa die Hälfte aller Amerikaner den Papst positiv einschätzen, während es im Vorjahr noch zwei Drittel waren. Was war passiert?

Der Untersuchungsbericht der Grand Jury war wohl nicht das Problem, denn der John Jay College of Criminal Justice Report von 2004 hatte bereits Missbrauchsfälle in ganz Amerika von 1950 bis 2002 untersucht. Das Spektrum der Verbrechen gegen Kinder und das Fehlverhalten seitens der Bischöfe sind in Amerika seither Allgemeinwissen, von anfänglicher Naivität, über unfassbare Inkompetenz bis hin zum vorsätzlichen Vertuschen.

Aus dem John Jay Report war zu erkennen, dass die Zahl der Fälle in den späten sechziger Jahren anstieg und in den Siebzigern den Höhepunkt erreichte. In den Achtzigern nahmen die Fälle weiter stetig ab und sanken in den Neunzigern wieder auf das Niveau der fünfziger Jahre. In den Neunzigern gingen zwar die meisten Missbrauchsmeldungen ein, aber der Großteil bezog sich auf Vorfälle aus den Dekaden zuvor. Der Höhepunkt öffentlicher Entrüstung hingegen wurde viel später, im Laufe der Enthüllungen durch den Boston Globe in 2002 erreicht. Kardinal Bernard Law, der die Empfehlungen der Bischofskonferenz für einen konsequenten und transparenten Umgang mit Vorwürfen nicht befolgt hatte, trat von der Leitung der Diözese Boston zurück. Die Bischöfe Amerikas adoptieren offiziell eine „Null Toleranz“-Politik, Täter durften nicht wieder als Seelsorger eingesetzt werden, auch nicht nach einer „Behandlung“.

Der Pennsylvania Jury Report bestätigte nun einen deutlichen Rückgang von Missbrauchsfällen, seit den 2002 implementierten Leitlinien. Aus der ersten Welle der Entrüstung hatte die amerikanische Kirchenhierarchie grundsätzliches Krisenmanagement gelernt: Dass seitens der Institution nur Reue, Zerknirschung und die Bitte um Vergebung artikuliert werden kann und verzerrende Nebeneffekte der Medienkampagne nur mit respektvollem Zeitabstand und von scheinbar unbeteiligten Beobachtern analysiert werden dürfen. Dass es sich bei etwa neunzig Prozent der zitierten Fälle nicht strikt um Pädophilie, also um Übergriffe auf vorpubertäre Kinder, handelte. Dass, trotz der erschreckenden Zahlen, sexueller Missbrauch Minderjähriger beim katholischen Klerus statistisch unter dem Durchschnitt der Gesamtbevölkerung liegt.

Obwohl die sexuellen Übergriffe katholischer Priester in den Medien am besten dokumentierten sind, haben die in der englischsprachigen Welt bekannt gewordenen Fälle von Fernsehstars, Politikern und Popsängern in der öffentlichen Meinung mittlerweile den Eindruck abgebaut, es sei vor allem der Zölibat, der die Pädophilie fördere. Die Zahlen widerlegen ohnehin den Mythos, dass zölibatäres Leben Kindesmissbrauch begünstige: pädophile Straftäter leben überwiegend in Partnerschaften.

In einem Punkt unterscheiden sich die katholischen Priester Amerikas statistisch dramatisch vom Rest der männlichen Bevölkerung: Während Männer im Allgemeinen wesentlich mehr weibliche Opfer missbrauchen, haben sich katholische Priester bisher an wesentlich mehr männlichen Opfern vergangen. Die Tatsache dass es sich bei den Missbrauchsfällen durch Priester im John Jay Report zu achtzig Prozent um homosexuelle Übergriffe auf männliche Teens handelte, beschäftigte bereits 2004 die Öffentlichkeit.

In Diskussionen um die Frage nach den Ursachen der Missbrauchskrise geht es also erneut um die Rolle von Homosexualität. Schenkt man den in katholischen Medien verbreiteten Einteilungen Glauben, dann halten „ultrakonservative Homophobe“ Homosexualität für das Hauptproblem, während Liberale wissen, dass der „Klerikalismus“ Schuld daran ist. Doch ganz so simpel lassen sich die Perspektiven nicht zuordnen, denn auch viele liberale Katholiken in den Vereinigten Staaten stimmen mit dem Soziologen Richard Snipes darin überein, dass die Zahlen es unmöglich machen, homosexuelle Neigung als Faktor in der Missbrauchskrise auszuschließen. Der leichtere Zugriff auf Jungen mag vor allem für Fälle in der Vergangenheit eine Rolle gespielt haben, aber auch in jüngerer Zeit scheint sich an der Proportion nichts geändert zu haben. Wichtig bleibt dabei, dass homosexuelle Neigung in den Fällen von genuiner Pädophilie, die fünf bis zehn Prozent der Missbrauchsfälle in den beiden Berichten ausmachen, gerade keine besondere Rolle spielt. Dass Homosexualität nicht zu Pädophilie führt, kann nicht oft genug gesagt werden, aber von einer Krise gleichgeschlechtlichen Missbrauchs an Teenagern zu sprechen, muss weder „homophob“ noch „ultrakonservativ“ sein, sondern ist zunächst einmal nur eine Artikulation der Zahlen in Worten. Dass die Pressekonferenz zum Jury Report auf dem Podium dennoch eine Gruppe überwiegend weiblicher Opfer zeigte, entging Beobachtern natürlich nicht.

Was nun aus dem Jury Report letztendlich Sprengstoff machte und eine kleine Popularitätskrise für den Papst verursachte, waren weder Enthüllungen noch Grundsatzdebatten, sondern das Timing seines Erscheinens. Erst kurz zuvor, Ende Juni, hatte die New York Times berichtet, dass es eine glaubwürdige Anschuldigung gegen Kardinal McCarrick von Washington gebe, er habe einen Minderjährigen sexuell missbraucht. Aus den Reaktionen auf diese Nachricht ging hervor, dass Kardinal McCarrick längst für seine homosexuellen Affären bekannt war und als „Uncle Ted“ ganze Reihen von Seminaristen und jungen Priestern belästigt hatte.

Diese Nachricht schlug nicht nur in der katholischen Kirche Amerikas kräftig ein, denn die Fallhöhe Kardinal McCarricks hatte sich über dessen Bischofssitz in der Hauptstadt Washington hinaus durch seine besondere Nähe zu Papst Franziskus nochmals gesteigert. Ende Juli trat McCarrick als Kardinal zurück. Anfang August löste der Papst mit der Änderung des Paragrafen zur Todesstrafe im Katechismus eine Debatte aus, die, wie vorauszusehen, vor allem Amerikas konservative Katholiken intensiv beschäftigte. Die McCarrick story schien damit gekappt.

Doch das Erscheinen des Jury Report machte auch McCarrick erneut zum Thema und Diskussionen um seine Rolle in Amerikas Kirche wurden spezifischer.

Aus manchem Kuriengeflüster war längst bekannt, dass die Kardinäle Blase Joseph Cupich und Joseph William Tobin nie auf den Listen der Bischofskongregation standen, sondern jeweils über McCarricks Empfehlung und auf direkte Anweisung des Papstes ernannt und umgehend zu Kardinälen gemacht worden waren. War dies nun endlich ein konkretes Beispiel jenes korrupten Netzwerkes, das Papst Franziskus eigentlich bekämpfen wollte?

Eine Woche später behauptete Erzbischof Carlo Maria Viganò, der ehemalige Nuntius in Amerika, Papst Franziskus habe mindestens seit 2013 gewusst, dass McCarrick serienmäßig Seminaristen belästigt habe. McCarrick sei trotzdem zum wichtigsten amerikanischen Berater des Papstes avanciert und tatsächlich für die Ernennungen von Cupich und Tobin verantwortlich gewesen.

Kardinal Cupich erklärte daraufhin, es sei nicht gut, den Vorwürfen Viganòs nachzugehen, der Papst habe von McCarricks sexuellen Übergriffen auf Seminaristen und Priester gewusst: „Der Papst hat eine wichtigere Agenda, er muss sich um andere Dinge kümmern, über die Umwelt sprechen, den Schutz der Migranten, und die Arbeit der Kirche weiter führen. Wir werden uns in dieser Sache nicht in die Ecke treiben lassen.“

Auch Kardinal Donald Wuerl, der Nachfolger McCarricks als Erzbischof von Washington, versuchte in einem Fernsehinterview mit dem englischsprachigen Vatikansprecher Thomas Rosica die Behauptungen Viganos herunterzuspielen: „Ich glaube nicht, dass wir hier eine riesige, riesige Krise haben.“

Der iranische Konvertit zum Katholizismus Sohrab Ahmari beanstandete in der New York Post, dass Kardinal Wuerl die Missbrauchskrise lediglich als Imageproblem behandele. „Barmherzigkeit“ ohne Wahrheit und Buße sei nicht mehr als Public Relations.

Wuerl hatte eine Webseite „The Wuerl Record“ einrichten lassen, die zeigen sollte, dass er keinen Missbrauch habe durchgehen lassen. Sie wurde umgehend wieder gelöscht und die Washington Post brachte unter dem Titel „Ein Blender im Kardinalshut“ detaillierte Hinweise darauf, dass der Kardinal Missbrauchstäter lediglich versetzte, einen Informanten für sein Schweigen bezahlte und einen Ring von Kinderpornos produzierenden Priestern geschützt habe.

So wurde der Jury Report zum Anlass für eine neue Diskussion über die Strukturen, Missbrauch zu verheimlichen. Das Phänomen, dass Vorgesetzte in Priesterseminaren und Diözesankurien den Nachwuchs rekrutieren und fördern, der ihre sexuellen Präferenzen teilt, ist in den Vereinigten Staaten gut dokumentiert und wird nun im Zusammenhang mit McCarrick und Wuerl offen diskutiert. Beide Kardinäle waren die Protegés homosexuell aktiver Mentoren, McCarrick wurde selbst zum Täter, Wuerl war immerhin in Missbrauchsvertuschung involviert. Die These Sipes scheint sich zu bewahrheiten, dass der Versuch, das eigene Fehlverhalten zu verbergen, zu einer Verheimlichungskultur unter sexuell aktiven Klerikern führe, in der keiner den ersten Stein werfen wolle, im Extremfall selbst dann, wenn ein Verdacht auf Vergehen gegen Minderjährigen bestehe.

Ob und wann der Papst über McCarricks homosexuelle Affären mit Seminaristen und Priestern informiert war oder sogar über die in der Diözese New York 2016 eingegangene Anklage, er habe einen Minderjährigen missbraucht, steht weiterhin offen. Der Papst erklärte, er werde darüber schweigen und umgehend zirkulierten Zitate aus seiner Predigt am Palmsonntag, als er den Jugendlichen zurief: „Ihr habt es in Euch, laut zu rufen“, während „ältere Leute, Personen in Führungspositionen, sehr oft die korrupten, lieber schweigen!“

Die Reaktionen einiger der engsten Alliierten des Papstes, wie Kardinal Oscar Rodriguez Maradiaga, oder auch die seines englischen Biographen, des Publizisten Austin Ivereigh, waren unmusikalisch robust: Wieso die Aufregung, mit der Ausnahme der neuesten Vorwürfe sei es bei McCarrick schließlich nur um einvernehmliche Affären mit Volljährigen gegangen. „Oder habe ich hier was verpasst?“, fragte Ivereigh auf Twitter.

Ein Fingerspitzengefühl für das Empfinden der amerikanischen Öffentlichkeit fehlte hier. Vor allem seit der durch Harvey Weinsteins casting couch ausgelösten #metoo-Kampagne überzeugt das „Einvernehmen” zwischen Bischöfen und Seminaristen so wenig wie die zwischen Filmmogulen und Schauspielschülerinnen, Firmenchefs und Praktikanten.

Der Journalist und Papstbiograph Phil Lawler fasst am besten zusammen, was Amerikas Katholiken seither verunsichert: Auch wenn der Papst nichts vom 2016 erstmals erhobenen Vorwurf des Missbrauchs Minderjähriger wusste, ist es denkbar, dass der Papst homosexuelle Affären mit Seminaristen nicht als Disqualifikation für Schlüsselpositionen in der Kirche hält?

Präzedenzfälle, meint Lawler, zeigen, dass diese Frage mit ja beantwortet werden muss, denn der Papst ernannte auch den von Skandalen geplagten Prälaten Battista Ricca zu seinem Vertrauensmann beim vatikanischen Geldinstitut IOR. Der meistzitierte Satz des Pontifikates, „Wer bin ich, darüber zu urteilen?“, fiel in der Antwort des Papstes auf die Journalistenfrage bei einer „fliegenden Pressekonferenz, ob Riccas homosexuelle Affären ihn nicht ungeeignet machten. Der Papst betonte damals, dass er die Grenze dort ziehe, wo es um Kriminalität gehe, denn Missbrauch von Kindern sei ein Verbrechen.

„Kann es sein, dass der Vikar Christi auf Erden einem Kardinal, der Seminaristen verführte, nicht nur verzeiht. sondern auch als vertrauten Berater zu Rate zieht?“ Lawler meint, es gebe keinen Grund, diese Vermutung zurückzuweisen. Auch im Fall des belgischen Kardinals Danneels, der einen befreundeten Missbrauchstäter schützte, schien der Papst das nicht weiter übel zu nehmen und berief ihn zur Familiensynode.

Außer Zweifel steht, dass der von Papst Benedikt marginalisierte McCarrick im Pontifikat von Franziskus zum einflussreichsten amerikanischen Kirchenmann wurde. Noch 2016 reiste er als inoffizieller Mittelsmann nach China, er setzte sich in US-Medien für einen Kompromiss mit der chinesischen Regierung ein, der mittlerweile trotz erneuter Repressalien gegen Katholiken in China zustande gekommen ist. Als Patenonkel des gerade unterzeichneten China-Deals bereitete er den Weg für die Legitimierung regierungsnaher Bischöfe, die wegen ihres Lebenswandels bisher nicht als geeignete Hirten galten. Dass er bei seinen Besuchen in Priesterseminaren der offiziellen Kirche abstieg, verleiht dem China-Abkommen im Blick auf die Vorwürfe gegen McCarrick eine peinliche Fußnote.

Die alte Regel, private Sünden nicht publik zu machen, solange kein Verbrechen vorliegt, war bis zu einem gewissen Punkt nachvollziehbar, doch in der Diskussion um Kindesmissbrauch verschiebt sich die Gewichtung der Kriterien. Dass kompromittierte Bischöfe weniger bereit sind, Missbrauch aufzudecken, ist kein irrationaler Verdacht, sondern geht aus den Erfahrungen der Vergangenheit hervor. Generationen systemischer Korruption haben hier unermesslichen Schaden angerichtet, und es ist unmöglich zu leugnen, dass Homosexualität dabei eine Rolle spielte. Nicht wegen einer Fixierung auf sexuelle Orientierung, sondern um der Opfer dieser Korruption willen sind die privaten Sünden des Kardinal McCarrick nun von Interesse.

Die Vermutung des in den Vereinigten Staaten lebenden Publizisten Andrew Sullivans, dass es die Unterdrückung von Homosexualität sei, die im katholischen Milieu zu Missbrauch führe, beruht auf einem hydraulischen Modell der Sexualität, das in der Freudschen Folklore seinen Platz hat, wissenschaftlich allerdings schwer zu belegen ist. Sullivan selbst ist bekennender Katholik und lebt in einer gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaft. Kernpunkt seiner persönlichen Reaktion auf die Missbrauchsskandale ist die Annahme, dass keiner dieser Priester, die sich wiederholt an Kindern oder Minderjährigen vergehen, an das Evangelium glaube. Das gleiche gelte vermutlich für Bischöfe, die solche Männer schützen. Und damit setzt Sullivan alles auf eine Karte: Die Missbrauchskrise sei im Grunde eine Glaubenskrise.

Richtig ist sicher, dass der, der an Christus und seine Kirche und damit an die Heiligkeit und Wirksamkeit der Sakramente glaubt, im Krisenfall oft und aufrichtig beichtet und damit dauerhaft kein moralisches Doppelleben führen wird. Mit Zynismus und Heuchelei können wir dem Leib Christi, der Kirche, Wunden zufügen, die sie bis zur Unkenntlichkeit entstellen. Nur wer glaubt, kann sich dann noch sicher sein, dass es dennoch Christus ist, der seine Kirche nicht verlassen wird, bis ans Ende der Tage.

Zuerst erschienen im VATICAN-Magazin, Ausgabe 10 / 2018. Veröffentlicht bei CNA Deutsch mit freundlicher Genehmigung. (CNA Deutsch)

Vatikansprecher: Missbrauchskrise noch nicht überwunden

 

Die Missbrauchskrise in der katholischen Kirche ist nach den Worten von Vatikansprecher Federico Lombardi noch nicht überwunden. Es handele sich um lange Prozesse der Aussöhnung und des Dialogs, betont er in einem Beitrag für das Juni-Heft der italienischen Monatszeitschrift „Jesus", der vorab bekannt wurde. Die Beratungs- und Anlaufstellen für Missbrauchsfälle hätten ihre Arbeit intensiviert, es meldeten sich ständig Personen, schreibt der Jesuit in seinem Artikel. Zugleich äußert er die Hoffnung, dass die Krise auch einen positiven Effekt haben werde und – wie es Papst Benedikt XVI. stets fordere – zu einer tief greifenden Umkehr, zu Reue, Buße und Erneuerung der Kirche und der Gläubigen beitrage. Zudem müsse diese Krise dazu führen, dass sich derartige Vorfälle niemals wiederholten. (rv)