Kirche und Missbrauch: Viele unbeantwortete theologische Fragen

Universität GregorianaWelche Fragen hat der Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche in theologischer Hinsicht aufgeworfen? Zum ersten Mal beschäftigt sich eine Konferenz explizit mit diesem Themenfeld. Das internationale Symposium „Child Protection – A Spiritual and Theological Approach“ geht an diesem Mittwochabend an der Universität Gregoriana zu Ende. Großes Thema auf der Veranstaltung, die vom Kinderschutzzentrum der Päpstlichen Uni in Zusammenarbeit mit anglophonen Bischofskonferenzen ausgerichtet wurde: das Amtsverständnis von Priestern und Bischöfen. Dieses sei seit dem Missbrauchsskandal ziemlich in die Krise geraten, bestätigt Pater Hans Zollner, Organisator der Tagung, im Gespräch mit Radio Vatikan.

„Das Amtsverständnis hat sicher Risse bekommen, und zwar überall dort, wo die Skandale um Missbrauch die Grundfesten der Kirche und des kirchlichen Selbstbildes erschüttert haben. Das betrifft sehr viele von den Ländern, die hier vertreten sind, speziell die englischsprachigen Länder des Westens, aber auch einige Länder Afrikas oder Asiens. Es ist meines Wissens der erste Kongress, der jemals weltweit zu diesen Fragen auf theologische Themen ausgerichtet wurde. Ich bin überzeugt davon, dass das erst der Anfang einer weitergehenden theologischen Reflektion ist, in der sehr viel davon die Rede sein wird, was Priestersein heute bedeutet im Blick darauf, wie Männer, die diesen Dienst tun wollen, vorbereitet werden müssen – das wurde hier immer wieder angesprochen.“

Viele unbeantwortete Fragen

Neben der Frage des Amtsverständnisses gehe es bei einer theologisch-spirituellen Beschäftigung mit dem Thema zum Beispiel auch um kontroverse Fragen der Seelsorge, so Zollner weiter – für die Opfer und die Täter. Doch auch insgesamt werde das große Gebäude der Kirche durch den Missbrauch in besonderer Weise auf die Probe gestellt. Der Vizerektor der Uni Gregoriana gibt einen Überblick über die Bruchstellen, die das Phänomen im theologischen Feld aufgerissen hat:

„Was will uns Gott sagen mit der Situation, in der wir uns jetzt befinden? Was will er uns sagen im Blick auf die Kirche als Ganzes und auf ihre Strukturen? Was will er uns sagen mit Blick auf die Sakramente? Was bedeutet Verantwortlichkeit in der Kirche? Welche Rolle spielen Bischöfe? Wie ist das Leitungsamt strukturiert? Auf welche Dinge müssen Bischöfe, müssen Obere achten? Wie soll ich zu einem Opfer von Missbrauch von Erlösung sprechen? Was bedeutet es, wenn ich sage: ,Jesus Christus hat dich erlöst in deinem Leiden’ – kann man das sagen? Wie kann man das sagen – einem Opfer von Missbrauch, ohne dass es schal wird, ohne dass es leer ist? Wie kann man zu einem Missbrauchstäter davon sprechen, dass er um Vergebung bitten muss? Kann dies überhaupt geschehen, kann einem Missbrauchstäter vergeben werden? Wie soll eine Versöhnung stattfinden? Gibt es so etwas wie eine Lossprechung für diese Art von Sünden? Welche Auswirkungen hat das auf unser Bild von Gott? Reden wir mit Gott über das, was geschehen ist an Verbrechen an unschuldigen, an verwundbaren Menschen, an denen, die die Schwächsten sind, die Kinder, die Jugendlichen, alle Gruppen, die leicht ausgenutzt werden können?“

Zu lange „weggedrückt“

Dass die theologische Dimension im Umgang der Kirche mit Missbrauchsfällen so lange ausgeklammert wurde, ist für Zollner, der Mitglied der Päpstlichen Kinderschutzkommission ist, symptomatisch für eine gewisse Blindheit, die in der Institution Kirche allzu lange herrschte. Schließlich seien die ersten Missbrauchsfälle schon vor vierzig Jahren bekannt geworden – zuerst in Kanada und den USA, später in Irland und zuletzt in Mitteleuropa:

„Was bedeutet es für uns als Kirche, dass wir seit vierzig Jahren – wenn man die ganze Situation seit dem Aufbruch der Skandale in Kanada, USA, Irland bedenkt und seit fünf Jahren, etwas mehr auch in Mitteleuropa – was bedeutet es für uns als Kirche, wenn wir uns diesen Fragen lange Zeit aus theologischer Sicht nicht gestellt haben? Ich glaube, dass das ein Spiegelbild dessen ist, wie wir insgesamt als Kirche, und wie auch die Obrigkeit in der Kirche mit diesen Fragen lange Zeit umgegangen ist, nämlich indem man sie einfach weggedrückt hat, einfach nicht darüber nachgedacht hat, nicht sie tatsächlich reflektiert hat, und auch nicht versucht hat, sie in irgendeiner Art und Weise zu beantworten.“

Kirche kann von Heilungsgeschichte der Opfer lernen

Erlösung, Versöhnung, Vergebung sind laut Zollner weitere Grundbegriffe, die auf dem Symposium behandelt wurden. Vor allem, was den Kontakt zu Opfern von Missbrauch betrifft, verschenke die Kirche immer noch große Chancen: „Ich bin persönlich überzeugt davon, dass wir als Kirche gut daran täten, uns den Opfern noch viel mehr zuzuwenden als das schon geschieht, wenigstens in unseren Breiten. Weil ich glaube, dass viele Opfer, die missbraucht wurden durch Priester oder im Kontext von Kirche, der Kirche sehr oft auch sehr viel zu sagen haben. Dass sie aber auch sehr viel zu geben haben im Sinne einer Erfahrung des Verwundetseins und eines Weges, der auf Heilung hingeht. Wenn wir als Christen an einen Gott glauben, der verwundet wurde, der ungerechterweise misshandelt wurde, der getötet wurde, nachdem er gefoltert worden ist und den wir verehren als einen, der am Kreuz gestorben ist – wenn wir an so einen Gott glauben, dann heißt das doch auch, dass Menschen, die missbraucht worden sind, sehr nahe an diesem Gott sind und dass dieser Gott sehr nahe bei ihnen ist.“

Deshalb gebe es für die Kirche auch aus theologischer Sicht „unglaublich viel zu lernen“, so Pater Zollner. Das habe er selbst erfahren dürfen: „Was bedeutet Erlösung? Was bedeutet Vergebung und die Möglichkeit der Versöhnung? Was für eine Kraft steckt in diesen Wunden? Wir singen im Osterlied, in der Osternacht singen wir: ,O glückliche Schuld’ in Bezug auf Jesus, der unter der Schuld der Menschen gestorben ist, aber uns diese Erlösung gebracht hat. Dort, wo die Sünde am schwersten ist, dort ist auch die Erlösung am dichtesten erlebbar. Das habe ich selber erlebt und bin froh und dankbar, dass mir Betroffene von Missbrauch die Möglichkeit gegeben haben, das von ihnen zu hören. Mich hat das sehr berührt, und es hat mich auch sehr verwandelt.“ (rv)

Missbrauchsprävention: Päpstliche Uni stellt weiteres Projekt vor

 Universität Gregoriana„Missbrauchsprävention“ – was seit dem Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche in unseren Breiten in den vergangenen Jahren zum geflügelten Wort wurde, ist in vielen Staaten Asiens und Afrikas leider immer noch ein Fremdwort. Das will das Zentrum für Kinderschutz der Päpstlichen Universität Gregoriana ändern. Diese Woche Mittwoch stellt die akademische Institution ein weiteres Ausbildungsprojekt zur Vorbeugung von sexuellem Kindesmissbrauch innerhalb der Kirche vor.

Pater Hans Zollner, Leiter des päpstlichen Kinderschutzzentrums an der Gregoriana, erzählt im Interview mit Radio Vatikan, worum es sich handelt: „Was wir jetzt tun und was ab morgen online sein wird, ist das Programm für einen Diplomkurs, einen einsemestrigen Diplomkurs auf Englisch, den wir ab 2016 hier an der Gregoriana durchführen werden für künftige Präventionsbeauftragte in Diözesen, Ordensgemeinschaften oder katholischen Institutionen weltweit.“

15 bis 18 Ausbildungsplätze sollen pro Sommersemester jeweils vergeben werden, so Zollner. Dabei seien Teilnehmer aus solchen Teilen der Welt vorgesehen, in denen es bisher kaum oder gar keine Maßnahmen zur Missbrauchsprävention im kirchlichen Bereich gebe: „Wir haben jetzt schon die Zusicherung, dass eine bestimmte Anzahl, vielleicht ein Drittel aller Teilnehmerinnen und Teilnehmer, aus Afrika kommen werden, weil die auch eine spezielle Förderung erhalten werden.“

„Was ja gerade auch unser Ziel ist: Dass wir in jenen Ländern, in denen solche Worte wie ,Präventionsbeauftragter einer Diözese‘ praktisch unbekannt sind, hineinwirken und nicht nur Bewusstsein schaffen können, sondern auch Leute ausbilden, die dann dort in diesem Bereich Verantwortung übernehmen.“ Nachholbedarf gebe es etwa in mehreren Staaten Westafrikas, berichtet Zollner. So hätten fünf frankophone Bischofskonferenzen dieser Region die vom Heiligen Stuhl angeforderten Leitlinien zur Prävention gegen Kindesmissbrauch immer noch nicht eingereicht.

Pater Zollner ist über den Stand der einzelnen Ortskirchen in der Frage gut informiert. Laut dem Psychologen hat die Aufmerksamkeit von Papst Benedikt XVI. für das Thema und die Einrichtung der internationalen Kinderschutzkommission durch Papst Franziskus die Diskussion über Kindesmissbrauch „weltweit enorm beschleunigt“ und „die Aufmerksamkeit kirchlicher Verantwortungsträger geschärft“. So sehe man heute insgesamt in einigen Ländern, „wo es bisher noch gar nichts gab“, klare Fortschritte im Kampf gegen Missbrauch:

„Zum einen in der Art und Weise, wie innerhalb der Kirche und über die Kirche hinaus über das Thema in der Öffentlichkeit gesprochen wird, andererseits auch wie einige Präventionsmaßnahmen schon durchgeführt werden. Ich denke an Länder wie Polen oder Indien, wo dieses Thema bis vor kurzem praktisch nicht präsent war, weder in der Gesellschaft als Ganzer noch innerhalb der Kirche, und wo mindestens erste Schritte geschehen sind. Schritte, die auch nicht mehr rückgängig gemacht werden können von Leuten, die sich mit dem Thema eigentlich nicht auseinandersetzen wollen.“

Insgesamt sei klar geworden, dass „bei den höheren Kirchenoberen in großer Mehrzahl eine Sensibilität für das Thema gewachsen“ sei und der Wille bestehe, entsprechend zu handeln, resümiert Pater Zollner, der auch der Päpstlichen Kinderschutzkommission angehört und innerhalb dieses Gremiums die Arbeitsgruppe Ausbildung leitet.

Weiteres Projekt des Kinderschutzzentrums ist eine internetbasierte Lernplattform, die kirchlichen Mitarbeitern weltweit Wissen zur Prävention vermitteln und sie für den Umgang mit Fällen sexuellen Kindermissbrauchs qualifizieren soll. Nach einer Testphase soll die Plattform mehrsprachig online verfügbar sein. Auf der Blog http://ccpblog.unigre.it hingegen können alle Infos rund um die Projekte des Kinderschutzzentrums eingesehen werden.

Vertuschung von Missbrauchsfällen: Kinderschutzkommission fordert Sanktionen

Pater Zollner gehört auch der Päpstlichen Kinderschutzkommission an, in der er die Arbeitsgruppe Ausbildung leitet. Die Statuten der vor gut einem Jahr eingerichteten Kommission hatte der Heilige Stuhl in der vergangenen Woche veröffentlicht. Einer der aktuellen Vorschläge des Beratergremiums sei die Verschärfung der kirchlichen Normen hinsichtlich der Rechenschaftspflicht kirchlicher Verantwortungsträger, berichtet Zollner im Interview mit Radio Vatikan.

Die Rechtsnormen der katholischen Kirche sehen vor, dass ein Bischof Rom informiert, wenn sich in seinem Zuständigkeitsbereich ein Missbrauchsverdacht erhärtet. Wenn er seiner Pflicht nicht nachkommt, sind bisher – abgesehen von einem möglichen Durchgreifen des Papstes – keine Sanktionen vorgesehen. In Zollners Augen ist das ein großes Manko: „Es kann nicht angehen, dass ein Bischof vertuscht, verschweigt oder zum Beispiel auch den Priester von einer Diözese in die andere schickt oder von einer Pfarrei in die andere, um das Verbrechen nicht zu ahnden. (…) Wir wollen konkrete Sanktionen haben, so dass ein Bischof auch weiß, was ihm droht, wenn er sich nicht an das Kirchenrecht hält!“ Hier müssten Verfehlungen klarer benannt, Strafmöglichkeiten ermöglicht und der Rechtsweg definiert werden, so P. Zollner.

Die Frage der „bishops accountability“, der bischöflichen Mitverantwortung, hatte der Präsident der Kinderschutzkommission, Kardinal Sean Patrick O’Malley , zuletzt in die Diskussion der Kardinäle über die Kurienreform eingebracht. Eine Prognose, ob und wann es dazu konkrete Entscheidungen geben wird, kann Zollner im Gespräch mit Radio Vatikan nicht machen. Er ortet unter den Kardinälen jedoch „Offenheit“ gegenüber dem Thema.

Nach der Zusammenarbeit der Kinderschutzkommission mit der römischen Kurie befragt, unterstreicht der Jesuit, dass die Kommission zwar mit der Glaubenskongregation zusammenarbeiten, aber keine Kompetenzen der Kongregation übernehmen werde. Die Glaubenskongregation ist im Vatikan mit der juristische Aufarbeitung von Missbrauchsfällen entsprechend dem Kirchenrecht betraut. „Wir arbeiten im gewissen Sinne nicht enger mit der Glaubenskongregation als mit den anderen Dikasterien oder dem Staatssekretariat zusammen. Unsere Aufgabe ist es ja, dass wir dem Papst selbst direkt Vorschläge unterbreiten und ihm selber Ratschläge geben – ihn sozusagen auch auffordern, dass er aktiv wird über die verschiedenen Dikasterien des Heiligen Stuhls.“

Darunter seien neben der Glaubenskongregation auch die Bischofskongregation, die Kleruskongregation und die Kongregation für die Evangelisierung der Völker: „Weil dort darauf geachtet werden muss: Wie wird geschaut, welche Kandidaten fürs Bischofsamt ausgewählt werden? Und zweitens: Wie werden die Kandidaten für Priester- und Ordensberufe ausgebildet, sowohl in der anfänglichen Ausbildung als auch in der Fortbildung nach der Priesterweihe oder den letzten Gelübden.“

Zollner berichtet im Interview weiter, dass der Papst in der Glaubenskongregation eine eigene „Appellkommission“ eingerichtet habe. Sie behandelt die Fälle von Priestern, die in einer ersten Instanz aus dem Priesterstand entlassen wurden, den Entscheid aber anzweifeln und sich mit einem Appell an die Kongregation wenden können: „Und um diese Verfahren zu beschleunigen, hat der Papst eine Kommission eingerichtet, die diese Fälle schneller behandeln soll und so zu mehr Rechtssicherheit führen kann“, so Zollner. (rv)