Immer noch Überraschungen, neue Fragmente, neue Debatten: Auch siebzig Jahre nach den ersten Funden erregen die Manuskripte von Qumran immer neues Interesse. Es war eine Ziege gewesen, mit der 1947 in der Judäischen Wüste alles angefangen hatte; auf der Suche nach ihr machte ein Hirte in einer Berghöhle nicht weit von Jericho die spektakulärste archäologische Entdeckung des 20. Jahrhunderts. Er fand Schriftrollen aus dem Umfeld der Bibel. Ausgrabungen förderten bis 1956 in elf Höhlen die Überreste von 900 hebräischen Rollen aus dem dritten und zweiten Jahrhundert vor Christus zutage – darunter die ältesten Manuskripte, die wir von der Hebräischen Bibel überhaupt haben.
„Die überwältigende Mehrheit der Qumran-Texte ist mittlerweile bekannt und publiziert“, erklärt Professor Corrado Martone von der Uni Turin, der in diesen Tagen einen internationalen Kongress zum Stand der Qumran-Forschung in Bologna mitveranstaltet hat. „Unser Bild dieser Zeit hat sich durch die Funde völlig verändert: Wir haben jetzt Quellen aus erster Hand über das Judentum in der Zeit des Zweiten Tempels, also aus der in vielerlei Hinsicht lebhaftesten Epoche jüdischer Kultur, aus der dann das Christentum genau wie das heutige Judentum hervorgegangen sind. Das heißt, wir stehen hier an den Quellen unserer westlichen Kultur. Das Gros der – vor allem biblischen – Texte, die in Qumran aufgetaucht sind, bestätigt das, was viele Jahrhunderte später zum sogenannten masoretischen Text geworden ist, also zu dem Text, der auch heute noch in den Synagogen gelesen wird, zum Text der Hebräischen Bibel. Aber wir können durch die Funde auch die Entwicklung nachvollziehen, die zu dieser Konkretisierung des Textes geführt hat. Es ist also wirklich so, als könnten wir da die Entstehung des Bibeltextes mitansehen!“
Vieles ist noch unklar an den Qumran-Funden. Etwa die Frage, ob sie wirklich aus der Essener-Gemeinschaft hervorgegangen sind, die hier in der Wüste lebte und die im ersten Jahrhundert nach Christus von den Römern vernichtet wurde. Unklar ist auch, ob Johannes der Täufer oder gar Jesus mit dieser Essener-Gruppe etwas zu tun hatten – und wenn ja, was genau. Die Unklarheiten haben im Lauf der Jahrzehnte immer wieder Spekulationen befeuert, bis hin zu der halsbrecherischen These, der Vatikan versuche eine unbequeme Wahrheit über Qumran zu unterdrücken. Die Wirklichkeit ist prosaischer: Experten, die sich über teilweise winzige Fetzen beugen und denen oft nur eine lückenhafte Entzifferung gelingt.
Pentateuch-Rolle erst vor drei Jahren in einer Uni-Bibliothek wieder aufgetaucht
Der Forscher Mauro Perani von der Uni Bologna hat sich auf dem Kongress in den letzten Tagen vor allem mit der Rolle des vollständigen Pentateuch beschäftigt, also mit den fünf Büchern des Mose, die am Beginn der Hebräischen Bibel stehen. Die 36 Meter lange Rolle aus dem elften nachchristlichen Jahrhundert wurde allerdings nicht in Qumran entdeckt, sondern vor nur drei Jahren von ihm selbst in der Universitätsbibliothek von Bologna. Sie ist offenbar von Dominikanern im 13. Jahrhundert von Toulouse nach Bologna gebracht worden, stand dort im Mittelpunkt zahlreicher Studien, war aber nach den napoleonischen Wirren bis vor kurzem verlorengegangen.
„Diese Rolle bildete, wie alle Studien der letzten Jahre gezeigt haben, eine Säule, eine Art Polarstern, einen Leuchtturm der wahren Bibel des Esra. Sie wurde also dem Schreiber Esra zugeschrieben, offenbar um damit auszudrücken, dass sie in uralte Zeiten zurückreichte, und war ein Bezugspunkt nicht nur für das religiöse, sondern auch für das politische Leben. Bei Debatten über politische und religiöse Fragen bezogen sich alle immer auf diese wahre Bibel des Esra, die sich jetzt in der Uni-Bibliothek von Bologna befindet.“
Esra war um 400 vor Christus der Verfasser der beiden alttestamentlichen Bücher Esra und Nehemia, die im Alten Testament zum Korpus der Geschichtswerke gehören. Er berichtet über den Neuanfang des Volkes Israel in Jerusalem und Juda nach der Rückkehr aus dem Babylonischen Exil. Das achte Kapitel des Buches Nehemia schildert, wie „der Priester Esra“ dem Volk „das Buch mit dem Gesetz des Mose“ vorliest, zu dessen tiefer Betroffenheit.
Die Qumran-Rollen sind im Jerusalemer Heilig-Land-Museum ausgestellt, in einem eigenen „Schrein des Buches“. Für die in Bologna wiederaufgetauchte Pentateuch-Rolle soll jetzt ein eigenes Museum an der Uni Bologna entstehen, wie Professor Alberto Melloni erklärt. „Angesichts dieser Wiederentdeckung wollen wir mehr als nur eine Ausstellung rund um die Schriftrolle bieten – auch weil Bologna der Ort der ersten “Editio princeps” der Hebräischen Bibel war und weil in Bologna die erste „Jerusalemer Bibel“ auf Italienisch herausgegeben wurde. Dieser große rote Kasten – viele Katholiken in Italien werden sich an ihn erinnern – war so etwas wie eine Heimkehr der Heiligen Schrift in die katholische Tradition. Wir wollen ein Museum, wo die Bibel von Bologna nicht zum Museumsstück wird – das wäre eine Beleidigung, sie so zu behandeln! –, sondern wo sie Menschen, die immer weniger Umgang mit der Bibel haben, eine Möglichkeit zum Kennenlernen der Heiligen Schrift gibt.“ (rv)