Analyse: Nach dem Papstbrief hoffen viele Katholiken auf Konsequenzen aus der Krise – Doch nur eine Umverteilung von Macht wird das eigentliche Problem nicht lösen.
VATIKANSTADT – Wenn Papst Franziskus am kommenden Wochenende nach Dublin fliegt, zum Abschluss des Weltfamilientreffens, dann wird das Hauptaugenmerk darauf gerichtet sein, wie er die schwere Krise anpackt, welche die Missbrauch- und Vertuschungsskandale ausgelöst haben.
Das liegt zum einen daran, dass sexuelle Gewalt, unmoralisches Fehlverhalten und dessen Vertuschung bislang nicht nur in den USA, Chile, Honduras oder Australien ans Tageslicht gekommen ist, sondern auch und gerade Irland selber davon betroffen ist.
Mehr noch: Wenige Gesellschaften sind wohl so geprägt von ihrem Verhältnis zur krisengebeutelten Kirche wie die irische.
Einige Missbrauchsopfer forderten sogar, dass Papst Franziskus überhaupt nicht nach Irland kommen sollte, und mehrere Boykott-Initiativen waren in den vergangenen Wochen in sozialen Medien gestartet worden.
Auch zwei prominente US-Kardinäle haben ihre Teilnahme am Treffen wegen der Krise abgesagt, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, wie CNA Deutsch berichtete.
Marie Collins: „Nichts gegen Papstbesuch“
Doch die prominente Expertin Marie Collins, selber Opfer von Missbrauch, sagte gegenüber der Website „Crux„, sie habe nichts gegen den Besuch von Franziskus in Irland, oder dass Katholiken Events mit dem Pontifex besuchen.
Was der Papst jedoch zu sagen habe: Dem werde sie besondere Aufmerksamkeit schenken.
Für Irland, „das in den letzten 20 Jahren durch Enthüllungen über klerikalen sexuellen Missbrauch verwüstet wurde“ sei es „extrem wichtig“, dass Franziskus das Thema nicht ausgerechnet ignoriere, wenn er die einst so katholische Insel besucht, so die irische Katholikin zu „Crux“.
Es gehe nicht um Entschuldigungen, betonte Collins, sondern darum, nun auch zu handeln.
Marie Collins war eines von zwei Missbrauchsopfern, die 2014 in die Päpstliche Kommission für den Schutz Minderjähriger – als Gründungsmitglied – berufen wurde. Im März 2017 gab sie bekannt, sich aus dem Gremium zurückzuziehen: Aus Frust über die „mangelnde Kooperation in der Kurie“, wie CNA Deutsch berichtete.
Papst Franziskus wird sich wahrscheinlich in Irland mit Opfern treffen, kündigte Vatikansprecher Greg Burke gestrigen am Dienstag an. Der Pontifex wolle den Opfern zuhören, und zwar privat, ohne dass Einzelheiten veröffentlicht werden, hieß es.
Das mögliche Treffen würde dem gleichen Muster folgen wie das Treffen von Franziskus mit Opfern von Missbrauch in Chile während seines Besuchs im Januar 2018.
Reaktionen auf Papstbrief
Die Reise des Papstes zum Weltfamilientreffen folgt der Veröffentlichung seines Briefs „an das Volk Gottes“, in dem Franziskus unter anderem zu Gebet, Fasten und Buße aufrief und einen „Klerikalismus“ als Hauptproblem beschreibt.
Doch Bischöfe werden nicht einmal erwähnt, wie unter anderem Petra Lorleberg in einem Gastkommentar kritisierte. Und wie sie fordert Ulrich Waschki auf dem Portal der Deutschen Bischofskonferenz, es müssten nun auch „Rücktritte und Amtsenthebungen von Bischöfen, die Missbrauchstäter – aus welchen Gründen auch immer – gedeckt haben“ folgen.
Der Jurist und Theologe Markus Büning, selber ehemaliges Missbrauchsopfer, zog aus Konsequenz über den Brief von Franziskus seine Unterstützung des Papstes zurück, wie mehrere Medien berichteten, darunter Maike Hickson auf „Lifesite News“.
Bischof Stephan Ackermann von Trier, Missbrauchsbeauftragter der Deutschen Bischofskonferenz, würdigte, dass das Schreiben aus seiner Sicht auch für Deutschland aufrüttelnd sei.
Gleichzeitig werde sicher die Frage gestellt werden, warum der Brief an das ganze Volk Gottes gerichtet sei, „wo doch die Schuld und Verantwortung in erster Linie bei den Priestern, den Bischöfen und Ordensoberen“ liege, so Bischof Ackermann.
„Spricht der Papst nicht allzu leicht in der Wir-Form und nimmt damit diejenigen in der Kirche mit in Haftung, die aufgrund des skandalösen Verhaltens von Priestern selbst eher zu den Leidtragenden gehören? Der Brief wird sich diese Frage gefallen lassen müssen.“
Auf die Gefahr hin, grob zu vereinfachen: Zwei grundsätzliche Fragen werden von Kommentatoren aus dem gesamten katholischen Spektrum immer wieder aufgeworfen.
Erstens die grundlegende nach dem Umgang mit sexuellem Fehlverhalten, egal ob durch Bischöfe, Priester oder Seminaristen, und zweitens die dringende nach echten Konsequenzen für die Vertuscher und stillen Mitwisser.
Hier ist der Papst aus Sicht mehrerer Beobachter unter doppeltem Zugzwang, nicht zuletzt weil einige seiner engsten Berater und von ihm geförderten Personen von Skandalen betroffen sind – und auch Franziskus selber, zumindest im Fall Chiles, bereits eingeräumt hat, „schwere Fehler“ gemacht zu haben.
Der Zugzwang ist doppelt, insofern einerseits die große Mehrheit – von Opfern wie Marie Collins oder Markus Büning über weltliche, nicht auch nur annähernd der Kirchennähe verdächtige Medien wie die „New York Times“ oder der „Guardian“ bis hin zum kompletten Spektrum katholischer Stimmen, mit Ausnahme einiger, weniger – vom Papst konkrete Schritte erwarten und nicht verstehen, warum diese bislang ausbleiben.
Andererseits aber versuchen Papstgegner und Partisanen partikularer Interessen natürlich, sich des Themas zu bedienen, um ihre jeweilige Agenda zu befeuern. Dies könnte sowohl dem Papst als auch der Kirche weiteren, völlig vermeidbaren Schaden zufügen. Und einige Zauderer werden schnell merken, dass man manche Dominosteine nicht vor ihrem Umfallen bewahren kann.
Umgekehrt betrachtet freilich ist diese Krise potentiell immer noch eine gewaltige Chance für alle Gläubigen, nicht nur den Papst, der eigentlichen Ursache auf den sündhaften Leib zu rücken: der Gottlosigkeit, die all dem zugrunde liegt. Es ist diese „galoppierende Apostasie„, auf die auch Kardinal Burke deutlich hingewiesen hat, und zu deren Heilung Franziskus aufruft, wenn er zu Buße, zu Gebet und Fasten ermutigt.
Dazu bedarf es jedoch einer Einsicht: Dass Macht allein, oder die Umverteilung von Verantwortung, allein das Problem eben nicht lösen kann oder wird. Wie Professor Chad Pecknold auf Twitter schreibt:
„Wenn sich alles um ‚Macht‘ und nicht um Wahrheit dreht, ist es unvermeidlich, dass jedes Problem ‚lösbar‘ sein wird, indem behauptet wird, es gäbe entweder zu viel oder zu wenig Macht, was stets eine Umverteilung der Macht erfordert. So vermeiden die Mächtigen die Wahrheit.“
(CNA Deutsch)