Durchbruch in der Türkei: Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan will Kirchen zurückgeben. So und ähnlich rauscht es in diesen Tagen im Blätterwald. Was ist los in Ankara? Will Erdogan wirklich einen der vielen gordischen Knoten im Verhältnis zu den Nichtmoslems durchschlagen? Oder droht das neue Dekret gleich wieder im Behördendickicht zu verschwinden?
Türkei und Religionen – das ist ein kompliziertes Thema. Vor allem, wenn es um die nicht-islamischen Gruppen und Religionsgemeinschaften geht. Und wenn dazu noch Eigentumfragen ins Spiel kommen. Das hat historische Gründe.
Nur drei religiöse Minderheiten sind in der Türkei offiziell anerkannt: Orthodoxe Griechen, Juden und Armenier. Sie bekamen ihren Status 1936. Eine etwas breitere Definition von Minderheiten in der Türkei bot zuvor der Vertrag von Lausanne aus dem Jahr 1923: Er zog auch Kurden oder Aramäer in Betracht. Aber nicht die „westlichen" Kirchen: die römisch-katholische, die Lutheraner, die Freikirchen. Sie haben bis heute keinen Rechtsstatus in der Türkei.
Nicht Kirchen sind in der Türkei im Besitz von Immobilien, sondern Stiftungen: Das ist eine Hinterlassenschaft des Osmanischen Reiches. Dort hatte das Prinzip geherrscht, dass alles Land Gott gehört und der Sultan es für diesen verwaltete. Privater Grundbesitz war unbekannt. Stattdessen wies der Sultan den religiösen Gruppen auf deren Anfrage hin Grund und Boden zu, wenn sie Kirchen oder Krankenhäuser errichten wollten. Der rechtliche Rahmen hierfür waren „Vafiks": Stiftungen. 1936 mussten die Religionsstiftungen dem Staat Listen mit ihrem Besitz vorlegen. Jahrzehnte später brach eine Welle von Enteignungen los, die bis zum heutigen Tag nicht ganz verebbt ist.
Nun also das Dekret Erdogans: Es sieht die Rückgabe des seit 1936 enteigneten Besitzes an jüdische und christliche Stiftungen vor. Nicht an die Kirchen selbst, sondern an die Stiftungen:
„Die christlichen Kirchen in der Türkei existieren rechtlich gesehen überhaupt nicht, genausowenig wie die jüdische Gemeinschaft in der Türkei. Anstelle der christlichen Gemeinden, also der christlichen Kirchen, und auch der jüdischen Gemeinschaft sind`s eben diese Gemeindestiftungen, die eben die Eigner von Immobilien sind, die wir nun tatsächlich den christlichen Kirchen oder der jüdischen Gemeinschaft zuordnen würden – aber Faktum ist: Die christlichen Kirchen und die jüdische Gemeinschaft haben keine Rechtspersönlichkeit, sondern nur diese Gemeindestiftungen."
Das erklärt Otmar Oehring, der Menschenrechtsexperte des kirchlichen Hilfswerkes missio Aachen. Oehring ist in Ankara aufgewachsen; kaum einer im deutschen Sprachraum kennt sich mit dem Staat-Kirchen-Verhältnis in der Türkei so gut aus wie er. Oehring hat den Eindruck, dass 1936 viel schiefgelaufen ist – in dem Moment nämlich, als die religiösen Gruppen in Ankara eine Liste mit ihrem Eigentum einreichen sollten:
„Das ist damals nicht in der Weise kommuniziert worden, wie das heute wahrscheinlich der Fall wäre; viele haben überhaupt nicht gewußt, dass sie das tun wollten, und haben es dann eben auch nicht getan. Und 1974 hat der Oberste Gerichtshof der türkischen Republik dann entschieden, dass alles, was 1936 von diesen Gemeindestiftungen nicht als Eigentum registriert worden ist, an den türkischen Staat fällt."
Die Enteignungen begannen: Wohngebäude, Kirchenzentren, Garagen, Schuppen kamen – wie Oehring formuliert – „den Stiftungen auf einmal abhanden". Eines der enteigneten Gebäude ist heute übrigens ein Nachtklub. All das muss jetzt zurückgegeben werden – außer, wenn der Staat diese Immobilien in der Zwischenzeit an Dritte veräußert hat. In diesem Fall sind Entschädigungen zum Marktwert vorgesehen.
Istanbul, das frühere Byzanz, hat eine stolze Geschichte und ist immer noch Sitz des Ökumenischen Patriarchen von Konstantinopel. Doch in der Stadt am Bosporus und auf zwei Inseln in den Dardanellen leben mittlerweile nur noch ca. 2.500 Griechen. Was sollen die jetzt auf einmal mit all diesen Immobilien, darunter womöglich dem Nachtklub, machen?
„Gut – man kann sich natürlich fragen, ob das sinnvoll ist oder nicht. Aber die eigentliche Frage ist: Soll hier Recht geschehen oder eben nicht? Und die türkische Regierung hat sich überraschenderweise darauf geeinigt, dass hier tatsächlich Gerechtigkeit geschehen soll – dass also wirklich all das, was den Gemeindestiftungen seit 1936 weggenommen worden ist, an sie zurückübertragen werden muss. Der Vorsitzende eines Gremiums der Generaldirektion für Stiftungen – ein Grieche – hat in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass es tatsächlich nicht die Frage sein kann, ob die Griechen das alles überhaupt benötigen heutzutage (natürlich benötigen sie das nicht, um ihre seelsorglichen Aufgaben oder die im Sozial- und Bildungsbereich erfüllen zu können!). Aber sie haben natürlich einen Rechtsanspruch darauf! Und darum ist es richtig, dass sie das zurückkriegen."
Sie, die Griechen – oder gleich Jesus Christus selbst. In vielen Fällen ist nämlich Jesus, oder auch mal der heilige Georg, als Gründer einer Stiftung angegeben. So dass bisher manchmal türkische Gerichte Jesus vorgeladen haben, damit er bezeuge, dass ihm die Stiftung wirklich gehöre.
„Das Problem wird sich natürlich jetzt wieder stellen. Die türkischen Behörden und die Gerichte haben sich natürlich lange Jahre den Spaß gemacht, etwa nach dem heiligen Georg fahnden zu lassen. Und wenn er dann nicht aufgetaucht ist, haben sie dann mit der Begründung, dieser heilige Georg bzw. seine Erben seien nicht aufzufinden, eine Immobilie enteignet. Es scheint so, dass die türkische Regierung verstanden hat (oder verstehen wollte), dass das natürlich ein böses Spiel war – und auch wäre, wenn man das fortführen würde."
Die Fahndung nach Jesus oder dem heiligen Georg hat Erdogan jetzt offenbar eingestellt: Ihm ist es, glaubt Oehring, ernst mit der Rückgabe. Allerdings will der mit allen Wassern gewaschene Premier mit seiner Initiative auch keine schlafenden Hunde wecken. Darum wurde das Dekret eher versteckt veröffentlicht – in einem Text über die Arbeit des Ministeriums für Nahrungsmittel.
„Denn es hat in der Vergangenheit Streit gegeben über die Frage der Entschädigungen der nichtmuslimischen Gemeindestiftungen im Fall von Liegenschaften, die an gutgläubige Dritte veräußert worden waren. Da ist im Parlament von Abgeordneten argumentiert worden, dass man diesen schmutzigen Nichtmuslimen, diesen Ungläubigen, doch kein Geld nachwerfen sollte. Das tut jetzt die Regierung – und das muss man doch durchaus als einen sehr mutigen Schritt ansehen. Zumal eigentlich nicht klar zu sehen ist, aus welchem Grund sie das tun."
Wirklich nicht? Ist Erdogans Schachzug nicht in Wirklichkeit ein Signal an die Europäische Union, der die Türkei doch, wie wir in den letzten Jahren immer wieder gehört haben, beitreten will? Nein, das sieht Otmar Oehring nicht so.
„Sie scheinen das wirklich aus der Überzeugung heraus zu tun, dass das eigentlich getan werden muss."
Die Hoffnung auf die EU – die hat die türkische Regierung im stillen schon fast fahren lassen, das zumindest ist der Eindruck des Türkei-Experten von missio.
„Es ist natürlich immer von der EU gefordert worden, dass diese ganze Frage geklärt wird, das ist schon richtig. Aber im Grund genommen muss man klar sagen, dass der Wind des Beitritts zur EU total abgeflaut ist. In der Türkei geht eigentlich kaum noch jemand davon aus, dass es wirklich zu einem Beitritt zur EU kommen kann."
Und auch auf EU-Seite gibt es „Indizien, dass das zumindest mittelfristig nicht geschehen wird", etwa in der mittelfristigen Finanzplanung der EU. Auch kirchliche Partner in der Türkei, mit denen Oehring in Kontakt ist, haben das Gefühl: Die Regierung Erdogan tut jetzt einfach für das Verhältnis zu den Nichtmuslimen das, was sie schon seit Jahren angekündigt hat, ganz unabhängig von einem EU-Beitritt.
„Ganz klar gesagt: Es ist ein wichtiger, ein mutiger Schritt, ein überraschender Schritt. Aber es ist noch nicht das, was eigentlich von der Türkei erwartet wird, nämlich dass sie vollständige Religionsfreiheit im Sinne der internationalen Konventionen (u.a. auch der Europäischen Menschenrechtskonvention) umsetzen würde. Das muss durch eine neue Verfassung geschehen, und es gibt zwar schon eine Diskussion und auch Streit über die Erarbeitung einer neuen Verfassung, aber es ist in keinster Weise klar, wie es mit diesem Verfassungsprozess weitergehen wird."
Ein Sprung zurück, ins Jahr 2008: Da war die gleiche Frage wie jetzt eigentlich schon einmal gelöst worden. Reform des Stiftungsrechts, guter Wille der Regierung, lobende Schlagzeilen, religiöse Gruppen stellen über 2.000 Anträge auf Rückerstattung von Immobilien usw. Und dann war dasselbe passiert wie oft: Das meiste versandet im Apparat, scheitert an bürokratischen Hindernissen.
„Das gleiche Problem wird sich diesmal wieder zeigen, dass unter Umständen die zuständigen Behörden, bei denen jetzt Rückgabe bzw. Entschädigung beantragt werden muss, natürlich wieder spielen werden. Das ist eine alte Geschichte in der Türkei, dass die Behörden nicht immer das tun, was die Regierungen wollen, und umgekehrt. Ein Problem, das es hier ebenfalls geben wird, ist, dass natürlich in dieser Regelung drinsteht, dass die interessierten rechtmäßigen Eigentümer, also die Gemeindestiftungen, erstens die Rückgabe oder Entschädigung beantragen müssen – und dass zweitens diese Einzelfälle auch dem Parlament vorgelegt werden müssen. Und das Parlament wird dann praktisch über Rückgabe bzw. Entschädigung entscheiden."
Hier liegt eine Schwäche des Dekrets: Schließlich hat es auch bei den letzten Änderungen des Stiftungsrechts immer wieder heftigen Streit unter den Abgeordneten gegeben. Das könnte auch diesmal dafür sorgen, „dass das Ganze doch wieder ins Hängen kommt", wie Oehring formuliert. Er hoffe allerdings, dass Erdogan als Parteivorsitzender der islamischen AKP sein Gewicht bei dieser Frage in die Waagschale werfen wird.
Profitieren werden von Erdogans Dekret alle religiösen Minderheiten oder Gruppen, die Gemeindestiftungen haben: Dazu zählen auch die katholischen Armenier und Syrer – alle, die als Minderheiten entsprechend dem Vertrag von Lausanne von 1923 gelten. Aber eben nicht die Bahai, evangelische Kirchen, freikirchliche Gruppen – oder die römisch-katholische Kirche. Die hat keine Gemeindestiftungen, sondern nur ganz normale Grundbuchauszüge für einige ihrer Liegenschaften. Für andere hat sie gar nichts.
„Und das zeigt, dass es eben doch noch ein weiter Weg ist, bis die Türkei wirklich zu voller Religionsfreiheit kommt. Denn die römisch-katholische Kirche hat größte Probleme im Hinblick auf ihre Existenz: Sie hat keinen Rechtsstatus in der Türkei, existiert offiziell nicht, kann sich eigentlich rechtlich gesehen gar nicht organisieren im Land, kann auch kein Eigentum haben."
Es bleiben also auch nach Erdogans neuestem Schritt „viele Widersprüche": Die Gemeindestiftungen haben zwar Rechtspersönlichkeit, gleichzeitig existieren ihre Bezugskirchen und –gemeinschaften rechtlich gesehen in der Türkei überhaupt nicht. Heiliger Georg, hilf!
In osmanischer Zeit hielten Schutzmächte aus dem Westen, etwa Frankreich oder Italien, ihre Fittiche über die römisch-katholische Kirche in der Türkei. Das fiel ersatzlos weg, als sich nach dem Ersten Weltkrieg die türkische Republik gründete. Trotzdem hält die rechtlich nicht existente Kirche weiterhin viele ihrer Liegenschaften – sie nutzt zum Beispiel Kirchen, als deren Eigentümer im Grundbuch längst der türkische Staat eingetragen ist. Da gibt`s noch viele Fragen zu klären, sagt Türkei-Experte Oehring.
„Es hat von seiten der katholischen Ortskirche und auch von vatikanischer Seite immer wieder die Idee gegeben, dass man nach dem Modell des modus vivendi mit Tunesien einen entsprechenden modus vivendi auch mit der Türkei aushandeln sollte: dass also das Kircheneigentum der römisch-katholischen Kirche gesichert wird, ausgehend von einem Status quo an einem bestimmten Bezugstag. Meines Erachtens wäre das der falsche Weg, weil wir klar sehen, dass es in der Türkei seit geraumer Zeit – mindestens seit 2002 – Bewegung in der Frage gibt hin auf mehr Religionsfreiheit. Es wäre meines Erachtens außerordentlich ungünstig, wenn die katholische Kirche hier vorpreschen würde und sich einen anderen Status zuzueignen versuchen würde, als er dann für alle anderen Kirchen am Ende möglicherweise herauskommen wird…"
Istanbul. Die armenische Gemeinde in der Stadt ist seit dem Völkermord von 1915 bis 1917 stark geschrumpft – im ganzen Land soll es nur noch 60.000 Armenier geben. Istanbuls christliche Armenier feiern ihren Gottesdienst jeden Sonntag in einer anderen Kirche der Stadt: aus Angst, dass wieder einmal eine Immobilie vom Direktorat für Religionsstiftungen eingezogen wird. Unter dem Vorwand, die Kirche werde ja gar nicht mehr genutzt.
Kommt der heilige Wanderzirkus der Armenier von Istanbul jetzt an ein Ende? Das Dekret der türkischen Regierung macht zumindest Hoffnung darauf. Doch der Weg hin zu voller Religionsfreiheit in der Türkei ist noch lang – auch weil das Osmanische Reich sehr komplizierte Verhältnisse an seine Nachfolger vererbt hat. Ein religiöses Knäuel, das nicht leicht zu entwirren ist. (rv)