Ein Mensch, den nur wenigen bekannt ist: Es handelt sich um den Augenarzt Friedrich Joseph Haas (1780 – 1853) aus Münstereifel. Haas hatte sich vor allem durch seinen unermüdlichen Einsatz für die zur Verbannung nach Sibirien verurteilten Sträflinge, kurz die, welche man in Russland die „Unglücklichen“ genannt hat, in Moskau verdient gemacht. Doch vergessen ist Haas durchaus nicht: Die Deutsche Bundespost hat im Jahre 1980 sogar eine Briefmarke aus Anlass des 200. Geburtstages des so genannten „Heiligen Doktors von Moskau“ (sviatoi doktor) herausgegeben.
Der ungewöhnliche Lebensweg von Friedrich Josef Haas, der als der heilige Doktor von Moskau in die Geschichte eingegangen ist, begann im heimatlichen Münstereifel, Herzogtum Jülich bei Köln. Hier wurde er am 10. August 1780 geboren. Sein Großvater ist Arzt, sein Vater betreibt eine Apotheke. Haas beschließt nach Abschluss der Schule an der Universität von Jena Mathematik und Philosophie zu studieren. Jedoch schon bald zieht er nach Wien, um dort den Medicus zu erlangen.
Einer seiner ersten Patienten ist der russische Fürst Repnin, der unter einer schweren Augenkrankheit leidet. Er erkennt die Begabung von Friedrich Haas und lädt den jungen Arzt nach Russland ein. 1802 erscheint er als Fjodor Petrowitsch Haas in Moskau. Schon im Juni 1807 wird er zum Chefarzt eines renommierten Krankenhauses, nämlich der Pawlowskaja Klinik Moskaus. Außerdem lehrt er auf der medizinisch-chirurgischen Akademie und arbeitet freilich in den Preobraschenskaja und Ekatherineskaja Altersheimen.
Den größten Teil seiner Arbeit aber widmete er der Fürsorge um die Gefangenen in Sibirien. Er ist fest davon überzeugt, dass der Mensch von Natur aus gut ist, weil Gott ihn nach seinem Ebenbild geschaffen hat. Sein Lebensmotto lautet: Beeilt euch Gutes zu tun.
Wir blenden zurück: Im Jahr 1829 wurde Doktor Haas zum Chefarzt aller Moskauer Gefängnisse bestellt, was auch die ärztliche Aufsicht über die zur Verbannung verurteilten Strafgefangenen einschloss. Er bemühte sich, die Polizeiärzte zu größter Menschlichkeit den Gefangenen gegenüber, anzuhalten. Auch für die Pflege religiöser Gesinnung bei den Inhaftierten war er sehr besorgt. Der Empfang der Eucharistie und des Bußsakramentes im Kreis der Gefangenen lag ihm sehr am Herzen.
Doch eines seiner Hauptverdienste bestand im Folgenden: 1832 veranlasste er die Befreiung der in Ketten gelegten für die Schwachen und Krüppel und begann einen energischen Kampf gegen den sogenannten Prut und gegen die Kopfrasur der Gefangen. Der Prut war ein etwa dreiviertel Meter langer Eisenstab, an dem acht bis zehn Eisenringe aufgezogen waren, um darin die Hand jeweils eines Gefangen für den Transport einzuschließen. Tausende an den Prut Gefesselte schleppten sich Tag und Nacht zusammengekettet, oftmals in eisiger Kälte, auf dem endlosen Weg nach Sibirien. Nur die Sterbenden wurden vom Prut befreit. Nach zwei Jahren unermüdlichem Einsatzes gelang es Haas schließlich den Prut durch menschlich erträglichere Fußfesseln zu ersetzen. Die schweren Eisenfesseln wurden durch leichtere ersetzt und innen mit Leder ausgelegt.
Unvergesslich ist der Einsatz von Doktor Haas bei der verheerenden Cholera-Epidemie in Moskau. Im Hospital war im Jahr 1830 der erste Cholera-Kranke eingeliefert worden, ein älterer Handwerker. Er atmete mühsam und stöhnte. Haas rief die jungen Ärzte zusammen. Er beugte sich über den von Fieberkrämpfen geschüttelten Mann und umarmte ihn. Einem jungen Kollegen, der daraufhin energisch protestierte, erwiderte er: „Ich tue was der Herr befiehlt. Ich begrüße meinen kranken Bruder. Die Krankheit ist nicht ansteckend und ich vertraue nicht nur auf Gott, ich weiß auch sehr wohl, dass von der Berührung mit einem Cholera-Kranken keine Gefahr droht.“
Während des Auf und Ab seiner finanziellen Situation nahm der unverheiratete Arzt ein Pflegekind an. Auch gründete er eine Schule für Kinder von Strafgefangenen. Nach fünf Jahren als Chefarzt am Altkatharenen Krankenhaus übernahm Friedrich Haas im Jahre 1845 die Leitung am neu eröffneten Krankenhaus „Haassovka“. Laut Anordnung und Kostenvoranschlag waren 155 Betten von Friedrich Haas vorgesehen, aber es war mit fast 300 Kranken belegt. Als der Generalgouverneur zur Inspektion kam, verlangte er Rechenschaft über die Verletzung der Vorschriften.
Hier die Antwort von Haas: „Aber Durchlaucht, was soll ich denn tun, wenn man mir eine schwerkranke Frau bringt?“ Der General Gouverneur schnitt ihm das Wort ab und herrschte ihn an: „Befehl ist Befehl! Verstehen Sie? Und Befehle sind auszuführen!“ Da stellte sich Haas vor den Schreibtisch mit den goldenen und silbernen Schreibutensilien, beugte seinen alten Rücken, fiel auf die Knie und verbarg sein Gesicht in den Händen. Seine Schultern zuckten, er weinte bitterlich. Der Generalgouverneur sprang auf, wollte ihn aufheben: „Was soll denn das? Stehen Sie auf mein Lieber. Gott mit Ihnen, handeln Sie so wie Sie es können und müssen!“
Im Jahre 1848 gab es in Russland eine große Missernte. Da wurde die Verköstigung der Gefangenen auf ein Fünftel gekürzt. Friedrich Haas schaffte durch Freundeshand eine Hilfe von 11.000 Rubel zur Verbesserung der Kost der Gefangenen bei. Die Zahl, der von Doktor Haas behandelten Kranken, erreichte um diese Zeit etwa 74.000 Patienten. Die Zahl, der von ihm betreuten Gefangenen wird mit 200.000 angegeben. Seine Schwester Wilhelmine bezeugt von ihrem Bruder: „Ich habe einen frommen Bruder. Er gibt seinen letzten Heller her und freut sich nur deswegen seines großen Besitzes, weil er ihm gestattet den Armen zu helfen. Es ist ihm sogar lästig, Geld zu haben.“
Friedrich Josef Haas war ein großer und intensiver Briefschreiber. Als exponierte Zeugnisse seines Denkens können zwei Briefe an den Philosophen Friedrich Wilhelm Josef von Schelling angeführt werden, die er aus Moskau an seinen verehrten akademischen Lehrer gerichtet hat. Sie sind Ausdruck seines Denkens und Dankens zu gleich. Außerdem weist sich Doktor Haas als Kenner der Schellingschen Identitäts- und Freiheitsphilosophie aus.
Hören wir ihn dazu: „Und noch ein Wort lassen Sie mich geliebter und verehrtester Lehrer hinzu setzen. Sie sagten damals, in Jena vor dem größten von Schülern und Lehrern angefüllten Auditorium, die erstaunenden Worte: Die einzige wahre Religion ist die Katholische. Mein damaliger akademischer Freund Troxler und andere sagten, Schelling meint dies nicht so. Er spricht von der Idee der katholischen Religion. Ja freilich, von der Idee der katholischen Religion. Die katholische Religion ist aber die Idee der katholischen Religion. Was sollte es sonst für eine katholische Religion sein können, wenn es nicht die Idee der katholischen Religion wäre, welche die katholische Religion ist. Diese Idee der katholischen Religion ist aber dasjenige, was wir katholische Religion nennen. Der einfachste Begriff, die bestimmteste Definition, die man der katholischen Religion geben kann ist die Liebe. Wo Liebe ist, da ist Katholizismus, wo nicht Liebe ist, da ist Nicht-Katholizismus. Der Katholizismus ist die Lehre davon, was Jesu überaus schön sagen, das reine Güte, der Grund und Inhalt der ganzen Schöpfung ist.
Im Wissen um seinen baldigen Tod schrieb Doktor Haas am 21. Juli 1853 sein Testament: „Alle, die meinen mir etwas schuldig geworden sind, sollen wissen, dass ich ihnen alles verzeihe. Ich denke ständig über den Segen nach, dass ich so ruhig und mit allem zufrieden bin und keinen Wunsch habe, außer dem einen, dass der Wille Gottes sich an mir erfüllen möge. Nach einem erfüllten Leben starb Doktor Friedrich Josef Haas am 16. August 1853 in Moskau. Seine Beisetzung auf dem Ausländerfriedhof auf den Wwedenski-Höhen fand unter dem Geleit von etwa 20.000 Menschen statt. Russisch-orthodoxe wie römisch-katholische Christen, Gesunde wie Kranke, Hohe und Niedrige. Auf der Umzäunung seines Grabes hängen gesprengte Eisenfesseln als Zeichen seines Wirkens für die Unterdrückten. Der Stein unter dem Grabkreuz trägt als Aufschrift seinen Leitsatz: „Beeilt euch Gutes zu tun.“ Und obwohl Doktor Haas doch schon fast 150 Jahre tot ist, ist sein Grab bis auf den heutigen Tag immer mit frischen Blumen geschmückt.
Während in Moskau sogar Straßen und Plätze nach ihm benannt wurden, wird Friedrich Josef Haas in Deutschland erst allmählich bekannt. Im Jahr 1980 widmet ihm die Deutsche Bundespost anlässlich der Gedenkfeiern zum 200. Geburtstag eine Briefmarke mit dem Begleittext: „Friedrich Josef Haas 1780-1853 heiliger Doktor von Moskau.“ Außerdem wurde die Persönlichkeit des heiligen Doktors von Moskau aus verschiedenen Blickwinkeln gewürdigt. Populäre, wissenschaftliche und literarische Biografien zeichnen seinen Lebensweg nach. Eine Untersuchung, die das natur- und religionswissenschaftliche Denken des Friedrich Josef Haas in geistesgeschichtliche Zusammenhänge stellt und dem karitativen Armen- Arzt seinen berechtigten Platz unter den Ärztephilosophen des 19. Jahrhunderts einräumt, steht jedoch noch aus.
„Beeilt euch Gutes zu tun“, dieses Leitmotiv war Lebenssinn und Erfüllung dessen, was der den weitaus größeren Teil seines Lebens als Arzt im fernen Moskau verbrachte. Er war ein Mensch, der sich ganz seinen Mitmenschen verschenkte, ein Mensch der jede merkwürdige schwierige Dialektik des christlichen Glaubens zu verstanden haben scheint. Nämlich, wer sein Leben zu bewahren sucht, wird es verlieren, wer es aber verliert, wird es gewinnen. Von dieser freimachenden und befreienden Botschaft war Friedrich Josef Haas ganz erfüllt. Als heilender Arzt sah er in jedem Menschen ein Abbild Gottes und war deshalb auch mit jedem Menschen eins und verbunden. Sein Leben mit den Armen, Unglücklichen und Verzweifelten war Zeugnis für eine Güte, die aus dem Herzen kam. Fernab einer jeden biederen Gutmütigkeit und ein Zeugnis für eine ungeteilte Gerechtigkeit, die in einer Aporie seiner Freiheit und Gerechtigkeit nicht zerbrechen musste.
In seinem Tun und Handeln wird der Boden und Weg einem neuen Denken bereitet, dass freilich auf vollendete Weise, Friedrich Hölderlin in seiner endgültigen Fassung der Friedensfeier vorwegnehmend besungen hat. „So denk mir jetzt das Beste, wenn man vollendet sein Bild und fertig ist der Meister und selbst verklärt davon, aus seiner Werkstatt tritt, der stille Gott, der Zeit und nur der Liebe Gesetz, das schön ausgleichende gilt von hier an bis zum Himmel. Viel hat von Morgen an, seit ein Gespräch wir sind und hören voneinander, erfahrener Mensch, bald sind aber Gesang wir.“
Zum Abschluss: Einer, von denen man es nicht ohne weiteres so erwarten würde, nämlich der deutsche Schriftsteller Heinrich Böll schrieb einst über den Freund der Gefangenen und heiligen Doktor Fjodor Petrowitsch Haas folgendes: „Er fragte nicht nach Schuld, er sah die Leidenden, die sich unter unerträglichen Umständen im Sommer und Winter aneinander gekettet Monate lang dahin schleppten. Mörder und Diebe, zahllose die in dem Gestrüpp von Vorschriften, bürokratischen Angeln und in ungeklärten Rechtsfragen hängen geblieben wurden. Und wenn man ihm vorhielt, sie wären ja wohl alle schuldig, verwies er auf Christus, der ja auch unschuldig verurteilt, gefoltert und zu Tode gebracht worden sei. Heinrich Böll. (rv)
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