Raue: „Anti-Missbrauchleitlinien gehen in die richtige Richtung“

Die Neufassung der Anti-Missbrauchrichtlinien geht in die richtige Richtung, lobt die Missbrauchbeauftragte Ursula Raue im Interview mit Radio Vatikan. Die deutschen Bischöfe hatten am Dienstag die neuen Leitlinien zum Umgang mit sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche vorgestellt. Dort werden Zuständigkeiten und Vorgehensweisen präziser gefasst. Die Berliner Rechtsanwältin hatte im Auftrag des deutschen Jesuitenordens eine unabhängige Untersuchung zu den Missbrauchsfällen in jesuitischen Einrichtungen vorgelegt und war mit zahlreichen Opfern in Kontakt. Raue:
„Gut finde ich, dass der sexuelle Missbrauch auch über die Grenzen des Strafgesetzbuches hinaus ernst genommen und verfolgt wird. Dann gibt es den ständigen Beraterstab, das finde ich auch eine sehr gute Lösung. Ganz gut ist auch, dass der Opferschutz aufgenommen wurde, das ist ja der Streitpunkt mit der Bundesjustizministerin. Denn aus meiner Erfahrung heraus muss man immer gucken, ob ein angemessener Schutz für das Opfer gewährleistet wird, und das scheint mir hier jedenfalls als Gedanke ernst genommen.“
Neben der juristischen Abwicklung der Missbrauchsfälle beziehen die Leitlinien 2010 auch explizit die psychologische Betreuung der Opfer mit ein. Eine Neuerung ist die Ernennung eines Zuständigen für Verdachtsfälle sexuellen Missbrauchs in jedem Bistum. Das ist eine gute Maßnahme, findet Raue. Eine Sache hält sie dabei allerdings noch für verbesserungswürdig:
„Es heißt ja: Die beauftragte Person „soll“ nicht zur Leitung des Bistums gehören. Das heißt ja dann im Umkehrschluss: sie „kann“ aber. Die beauftragte Person kann also immer noch aus dem Bistum kommen, was ich für keine gute Idee halte. Ich habe nicht ganz verstanden, warum man nicht völlig unabhängige Leute nimmt. Alle Leute, die in die Hierarchie eingebunden sind, unterliegen einem Weisungsrecht. Also ich fände es besser, wenn man da überhaupt keine Person aus Orden oder Bistum nehmen würde, sondern eine externe Person.“
Externe Zuständige wünscht sich Raue auch für den vom jeweiligen Diözesanbischof eingesetzten ständigen Beraterstab, dem auch Fachleute der Psychiatrie, Psychotherapie und Juristen angehören sollen. Raue hatte bei der Untersuchung der Missbrauchsfälle an jesuitischen Einrichtungen vor allem die mangelhafte Kommunikation über bestätigte Missbrauchstäter kritisiert. Kenntnisse über Missbrauchstäter sollten grundsätzlich weitergegeben werden, um neue Missbrauchsfälle zu verhindern, meint Raue.
„Das war ja der Hauptpunkt bei den ganzen Skandalen, mit denen wir es im letzten halben Jahr zu tun hatten: Dass es am Schutz für die Opfer gefehlt hat. Das heißt, die Täter konnten weiter machen, ohne dass das neue Umfeld wusste, was los war. Das ist unbedingt notwendig, und so ist es richtig, dass jetzt hinein geschrieben wurde, dass die Stelle benachrichtigt wird. Ich sehe hier allerdings, dass sich das nur auf kirchliche Einrichtungen bezieht. Und da bin ich der Meinung, das sollte überall, wo der Täter heu hinkommt, mitgeteilt werden – nicht nur im kirchlichen Rahmen.“
Für sinnvoll hält die Rechtsanwältin weiter den Ausbau der Prävention – sie denkt dabei sowohl an Aufklärung für Jugendliche als auch angehende Geistliche.
„Es steht ja hier was von Aufklärung über Sexualität im Rahmen der Kirche und den Umgang mit Sexualität. Ich denke, da könnten auch noch Präventionsmaßnahmen mit hinein. Denn es gibt ja auch Einrichtungen, in denen Kinder betreut werden. Da wünsche ich mir, dass da von vornherein Präventionsmaßnahmen mit hinein genommen werden, vor allem auch auf Seiten der Jugendlichen – dass man da ein Programm installiert, das die Kinder stark macht.“ (rv)

Missbrauchsbericht: Mindestens 205 Opfer

 

An diesem Donnerstagmittag hat die Missbrauchsbeauftragte Ursula Raue den mit großer Ungeduld erwarteten Abschlussbericht ihrer Untersuchungen vorgestellt. In München trat die im Februar vom Jesuitenorden eingesetzte Berliner Rechtsanwältin mit den Ergebnissen ihrer unabhängigen Untersuchung zum Missbrauch im Orden vor die Journalisten:
„Bis vorgestern haben sich bei mir 205 Leute gemeldet. Dabei kamen ganz unterschiedliche Vorwürfe zur Sprache. Von Aussagen wie „ich weiß, dass es anderen geschehen ist" bis hin zu „ich muss Ihnen jetzt einfach sagen, wie schlimm das für mich selber war", gibt es die ganze Bandbreite. Teilweise haben sich auch Geschwister von Opfern gemeldet, die sich selbst nicht gemeldet haben, und mitgeteilt, was sie wussten. Da war also alles drunter."
Verdächtigt werden 46 Patres, weltliche Lehrer und Erzieher des Ordens, gab die Missbrauchsbeauftragte an. Neben den Übergriffen an Jesuiten-Einrichtungen seien ihr fünfzig weitere, meist an katholischen Einrichtungen geschehene Übergriffe gemeldet worden, so Raue weiter. Als Orte des Missbrauchs nannte Raue neben dem Canisius-Kolleg in Berlin das Kolleg Sankt Blasien, das Aloisiuskolleg in Bad Godesberg, die Sankt-Ansgar-Schule in Hamburg, ein ehemaliges Kolleg im westfälischen Büren sowie Jugendeinrichtungen in Hannover und Göttingen. Wichtig sei nun vor allem, dass ihre Arbeit Konsequenzen hat, betonte Raue:
„Es müssen Supervisionen in die Schulen eingebaut werden, damit man sexuelle Übergriffe schneller als solche bemerkt. Es ist innerhalb des Ordens besser und offener mit Sexualität umzugehen. Es muss einfach eine gute und faire Kommunikation her. An der hat es, das hat meine Untersuchung an vielen Stellen ergeben, oft gehapert."
Bei vielen Opfern hätten die Übergriffe schlimme Auswirkungen auf ihren weiteren Lebensweg gehabt. „Diese Leute, die sich da gemeldet haben, sprechen fast durchgängig von gebrochenen Lebenswegen, von Angst und Depressionen, Problemen im sexuellen Bereich und zerstörten Ehen und Eheproblemen", so Raue wörtlich. Im Jesuitenorden seien viele Vorwürfe bekannt gewesen, ohne dass angemessen reagiert wurde. Die vergangenen Wochen hätten die Opfer erneut auf eine harte Geduldsprobe gestellt.
„Für die Opfer ist es so gewesen, dass sich die Zeit unendlich hingezogen hat. Das ist so: Wenn man etwas gesagt hat, was der Andere gehört haben soll, und dann kommt das nicht so schnell, dann zieht sich die Zeit ganz, ganz lange hin. Und dann wird man ungeduldig. Das habe ich durchaus verstanden."
Raue selbst war die Erleichterung darüber, dass sie nun die Untersuchungen und ihre heikle, aber überaus wichtige Aufgabe abgeschlossen hat, deutlich anzumerken.
„So schnell ist Zeit für mich selten vergangen. Es war wirklich viel zu tun: Ohne abendlichen Schluss und ohne Wochenenden. Meine Enkelkinder haben mich nur noch im Fernsehen gesehen." (rv)

D: Ansturm auf kirchliche Missbrauchs-Hotline

Die seit letztem Dienstag frei geschaltete Beratungs-Hotline der katholischen Kirche zu sexuellem Missbrauch hat bisher einen regelrechten Ansturm erlebt. Insgesamt 13 293 Anrufsversuche seien in der vergangenen Woche registriert worden. Das gab der Sprecher des Bistums Trier, Stephan Kronenburg, im Interview mit dem Kölner Domradio an. Die zuständigen Psychologen und Sozialpädagogen hätten Dienstag, Mittwoch und Donnerstag allein 394 Beratungsgespräche geführt, die zwischen fünf Minuten und einer Stunde gedauert hätten. Dass es sich um ein kirchliches Angebot handelt, sei für die Menschen anscheinend kein Problem. Kronenburg:

„Wir sind überrascht, dass so viele Menschen anrufen. Es gab im Vorfeld ja Befürchtungen oder teilweise sogar Kritik sowie die Frage: Kann die Kirche ein solches Angebot überhaupt machen? Werden sich Menschen, die von Mitarbeitern der Kirche missbraucht wurden, überhaupt an ein solches kirchliches Angebot wenden? Da sieht man jetzt doch schon nach den ersten Tagen deutlich, dass diese Befürchtung oder Kritik so nicht zutreffend ist. Es gibt offensichtlich viele Menschen, die fast auf dieses Angebot gewartet haben. Mit einem Ansturm in dieser Größenordnung haben wir so nicht gerechnet."

Die unabhängige Missbrauchsbeauftragte des Jesuitenordens, die Berliner Rechtsanwältin Ursula Raue, hatte nach der DBK-Sitzung zum Thema Missbrauch Beratungsangebote gefordert, die von der Kirche unabhängig sind. Auch sie erhält seit Wochen Anrufe von hunderten Missbrauchsopfern. Bei der Hotline der deutschen Bischofskonferenz bemühe man sich um einen differenzierten Zugang, so Kronenberg. So unterscheide man zwischen Beratungen zu sexuellem Missbrauch und körperlicher Gewalt.

„Es sind im Wesentlichen Missbrauchsopfer, aber auch Angehörige von Opfern, die dann aus der familiären Situation berichten. Was wir ebenfalls festgestellt haben, ist, dass es nicht nur Missbrauchsopfer sind, die sich melden, sondern dass sich auch Opfer von Misshandlungen an die Hotline wenden. Da geht es um Misshandlungen im Heimbereich und in Internaten. Wir verweisen dann allerdings an die eigene Hotline, die es seit einiger Zeit dafür gibt. Die Grenzen sind da natürlich fließend oder können nicht immer genau definiert werden. Aber unsere Berater versuchen einzuschätzen, ob sie oder die anderen Kollegen die richtigen Ansprechpartner sind."

Kronenburg bat um Verständnis dafür, dass aufgrund der Vielzahl der Anrufe nicht jeder durchgekommen sei. Wer seine Telefonnummer hinterlasse, werde aber auf jeden Fall zurückgerufen. Aufgrund des Andrangs habe man die Zahl der Berater aufgestockt, so der Bistumssprecher. Viele verschiedene Formen von Missbrauch seien aufzuarbeiten. So berichtet die „Frankfurter Allgemeine Zeitung" an diesem Donnerstag, dass an der Odenwaldschule in Südhessen offenbar bis in die neunziger Jahre hinein auch Schüler durch Schüler sexuell misshandelt oder in brutalen Ritualen gedemütigt worden seien. Ein ehemaliger Lehrer der Schule soll dabei in mindestens einem Fall nicht eingegriffen haben. Durch die neuen Fälle sei die Zahl der Missbrauchsfälle an der Schule von 33 auf etwa 40 gestiegen, so das Blatt. – Die kostenlose Hotline ist dienstags, mittwochs und donnerstags von 13.00 bis 20.30 Uhr unter der Nummer 0800 / 120 1000 erreichbar. Auch Täter können sich dort melden. Im Internet wird Beratung unter hilfe-missbrauch.de angeboten. (rv)

D: Raue kritisiert Missbrauchs-Beschluss

Die Missbrauchs-Beauftragte der Jesuiten, Ursula Raue, hat den Vier-Punkte-Plan der Deutschen Bischofskonferenz kritisiert. Der Beschluss zur Aufdeckung und Verhinderung von sexuellen Übergriffen sei in einigen Passagen nicht entschieden genug, sagte die Berliner Rechtsanwältin am Donnerstag auf Anfrage. So hätten die Bischöfe anordnen müssen, dass die Ansprechpartner für Missbrauchsopfer nicht der Kirchenhierarchie angehören dürften, betonte Raue. Zudem müsse klarer zum Ausdruck kommen, dass mutmaßliche Täter nicht in der Jugendarbeit eingesetzt werden dürften.
Kernstück des Missbrauch-Beschlusses der Deutschen Bischofskonferenz sei die Ernennung eines bundesweiten Ansprechpartners für alle „Fragen im Zusammenhang des sexuellen Missbrauchs Minderjähriger im kirchlichen Bereich", wie der Bischofskonferenz-Vorsitzende Robert Zollitsch am Donnerstag in Freiburg mitteilte. Das neue Amt übernimmt der Trierer Bischof Stephan Ackermann. Zollitsch:
„Ihn unterstützt das Büro, das wir im Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz in Bonn einrichten werden. Es wird die Zusammenarbeit zwischen den Bistümern und Orten mit allen relevanten Fragen ausbauen. Auch wird dieses Büro die Verbindung mit der zivilgesellschaftlichen Initiativen und staatlichen Aktivitäten sorgen. Wir starten zudem eine bundesweite Hotline zur Information in Fragen des sexuellen Missbrauchs Minderjähriger im kirchlichen Bereich."
Die Bischofskonferenz hat bisher auf die Äußerungen Raues nicht geantwortet. (rv)

D: „Ungeahnte Dimension“

 Missbrauch, ein Zwischenbericht. An diesem Donnerstagmittag legte die Rechtsanwältin Ursula Raue, die vom Jesuitenorden als unabhängige Sachbearbeiterin mit Aufklärung der Fälle betraut worden war, erste Ergebnisse vor.
„Was jetzt hier über uns hereingebrochen ist, das hat eine Dimension angenommen, die bisher nicht zu erahnen war."
So kommentierte Ursula Raue das vorläufige Ergebnis ihrer Untersuchungen zu den Missbrauchsfällen an Jesuitenschulen in Deutschland. 115 Missbrauchsopfer hätten sich inzwischen bundesweit bei ihr gemeldet, so Raue. Zwölf Jesuitenpatres seien namentlich beschuldigt worden. Auch zwei Frauen sowie andere Lehrer und Bedienstete des Kollegs würden des Missbrauchs beschuldigt. Der größte Teil der Opfer habe das Canisius-Kolleg in Berlin besucht. Unter den Opfern seien auch frühere Schülerinnen, so Raue. Zudem hätten sich ehemalige Schüler gemeldet, die nicht an Jesuiten-Schulen waren. „Es gibt Verfehlungen und Wunden, die heilen offenbar nicht. Und diese Wunden gehören dazu". Die Rechtsanwältin:
„Wir reden nicht von brutaler Vergewaltigung, sondern von Anfassen, von Selbstbefriedigung, von Streicheln, von zu großer körperlicher Nähe."
Ihr lägen Informationen über Opfer vor, die sich das Leben genommen hätten, fuhr Raue fort. Erstaunlich sei, dass es in den Personalakten des Jesuitenordens, die sie ausgewertet hat, an keiner Stelle um das Seelenleben der Kinder gehe, so die Rechtsanwältin weiter. In den nächsten Tagen werde ein Arbeitsstab gegründet, um alle Fälle aufzuarbeiten. Dem Großteil der Opfer gehe es nicht um eine finanzielle Entschädigung. Viele seien erleichtert darüber, dass sie ihre Geschichte endlich, das heißt gut 20 Jahre nach den Vorfällen selbst, erzählen können. Sie gehe davon aus, dass alle Taten verjährt seien, so Raue. Unterdessen hat das Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz angekündigt, dass sich ihr Vorsitzender, Erzbischof Robert Zollitsch, am Montag zum Auftakt der Frühjahrsvollversammlung der Bischöfe in Freiburg öffentlich zu den Missbrauchsfällen äußern wird. (rv)