Dem deutschen Vatikan-Kardinal Franz Ehrle widmet sich dieser Tage ein Kongress in Rom. Ehrle wirkte an der Wende zum 20. Jahrhundert als Präfekt der Vatikan-Bibliothek und von 1929 bis zu seinem Tod 1934 als Kardinal-Bibliothekar, womit ihm auch das vatikanische Geheimarchiv unterstand. Er war der „bedeutendste Präfekt dieser Bibliothek des 20., und ich würde sagen, auch des 19. Jahrhunderts", so charakterisiert ihn Paolo Vian, Leiter der Handschriftensammlung an der „Vaticana".
1880/81 hatte Papst Leo XIII. das Geheimarchiv für die historische Forschung geöffnet, in der Folge kam der Jesuit Franz Ehrle – wie viele andere Gelehrte – in den Vatikan und stieg 1896 zum Bibliothekspräfekten auf. „Ehrle war im Rat der Bibliothek der Geeignetste, um die Wünsche von Papst Leo umzusetzen", erklärte bei der Tagung die an der Vatikan-Bibliothek beschäftigte österreichische Historikerin Christine Grafinger. „Die Benutzer brauchten nach der Öffnung von Leo zwei Lesesäle. Ehrle musste die Bücher in die neuen Lesesäle bringen und hat das in kürzester Zeit umgesetzt." Zum anderen habe der Präfekt alles getan, um die reichen Bestände der Bibliothek erstmals benutzerfreundlich zu machen. Dabei setzte er neue Standards, von denen selbst die heutigen Nutzer noch profitieren. Grafinger:
„Er hat die Abteilung Kataloge ganz groß ausgebaut; Leute, die bei uns hier an den Handschriften arbeiten, möchten wissen, wo ihr Text vielleicht in einer anderen Bibliothek ist, und durch diese Abteilung Kataloge haben sie die Möglichkeit, das zu prüfen. Der Handschriftensaal ist zu seiner Zeit ausgebaut worden und auch das damalige Handschriftenmagazin."
Sogar die ersten Vorläufer der Fotokopie gehen in der „Vaticana" auf den deutschen Jesuiten zurück. Ehrle erkannte das Potential der Fotografie als Medium der Vervielfältigung.
„Er hat die technische Reproduktion von Handschriften eingeführt, das Lichtdruckverfahren ist Ende des 19. Jahrhunderts entwickelt worden, und er sagte, zum Schutz gefährdeter Handschriften sollten die erst fotografiert werden und dann im Lichtdruckverfahren, ein Vorfahre von heutigen Faksimile, gedruckt werden, damit die Nutzer, wenn sie kommen, nicht sofort das fragile Papier oder Pergament in die Hand bekommen, sondern erst zum Studium das gedruckte in die Hand bekommen und damit arbeiten können."
Und noch eine Premiere, die weit in die Zukunft weist, bereitete Bibliothekspräfekt Ehrle im Vatikan: Er gründete die weltweit erste Restaurierungswerkstatt für Bücher. 1898 berief der Jesuit einen Fachkongress im schweizerischen Sankt Gallen ein und lud die Verantwortlichen der größten Bibliotheken Europas dazu ein.
„Er konnte sogar vatikanische Handschriften mitnehmen, um dort den anwesenden Teilnehmern zu dokumentieren, welche Schäden es gibt, und zu diskutieren, wie man die Handschriften am besten konserviert und erhält. In Folge dieser Tagung ist dann an die Regierungen herangegangen worden, damit sie Fördermittel zur Verfügung stellen, um die Handschriften zu schützen. In der Vaticana ist die erste Buchrestaurierungswerkstatt der Welt eingerichtet worden, die eigentlich beispielgebend war für alle anderen Bibliotheken. Das war 1900."
Franz Ehrle wurde 1845 in Isny im Allgäu geboren. Er war nicht nur als Bibliothekar, sondern auch als Gelehrter hervorragend. So gab er zusammen mit einem weiteren Historiker, dem österreichischen Dominikaner Heinrich Denifle, ein siebenbändiges Nachschlagewerk heraus, das „Archiv für Literatur- und Kirchengeschichte des Mittelalters". Paolo Vian arbeitete in seinem Vortrag bei der Ehrle-Tagung am Camposanto im Vatikan auch die charakterlichen Qualitäten des Bibliothekars heraus, etwa im Vergleich mit seinem Mitarbeiter und späteren Nachfolger Giovanni Mercati.
„Ehrle war ein ausgleichender und auf Stabilität setzender Mann, Mercati hingegen nervös und etwas hochfahrend. 1912 entfernte ein junger deutscher Gelehrter aus der Bibliothek einen handschriftlichen Katalog über Manuskripte aus Grottaferrata. Vielleicht irrtümlich, vielleicht auch um den Heiligen Stuhl herauszufordern. Und da sieht man den Unterschied: Mercati ist für die extreme Lösung. Er würde den jungen Gelehrten sofort und unwiderruflich aus der Bibliothek verbannen. Ehrle hingegen entscheidet, wir lassen den Mann nach einer Pause wieder zu, aber wir schreiben einen Brief an den Forscher, der ihn uns an die Bibliothek empfohlen hat. Das ist bezeichnend. Ehrle war ein Mann mit hohen Führungsqualitäten. Und das ist schön, denn ein großer Gelehrter und gleichzeitig ein guter Menschenführer zu sein, das sind Tugenden, die nicht immer gleichzeitig anzutreffen sind."
Die internationale Tagung „Franz Kardinal Ehrle: Jesuit, Historiker und Präfekt der Vatikanischen Bibliothek" wurde vom Römischen Institut der Görres-Gesellschaft mitveranstaltet und fand zum Teil im Camposanto Teutonico statt. (rv)
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